Annett Gröschner | Linie 4A in Wien
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Wiener Abende

Kolumne, der Freitag online, 03.06.2005

Würde Harry Lime heute noch im Wiener Prater Riesenrad fahren? Wo doch eine Fahrt mit dem alten Ding, das sich behäbig um die eigene Achse dreht und alle zehn Meter stehenbleibt, sagenhafte 7,50 Euro kostet? Der Mythos des Dritten Mannes hat seinen Preis. Aber Harry Lime hatte genug Geld aus seinen Geschäften mit gestrecktem Penicillin.

Für die weniger Verdienenden gibt es seit einiger Zeit das so genannte Blumenrad zu einem Drittel des Preises. Man hängt etwas luftiger über der Stadt und schwankt bei Wind bedenklich mit der Gondel.

Nebenan lassen sich im Turbo Boost Leute für acht Euro mit 100 Kilometer pro Stunde zetrifugieren, dass die Schreie nur so aus ihnen herausspritzen und man Angst haben muss, dass sie brechen müssen, gerade in dem Moment, wenn man an ihnen vorbeischwebt – als Kutsche neben einer Rakete.

Ich war nur durch Zufall hier gelandet. Aber im Prater gewesen zu sein, ohne ein einziges Fahrgeschäft benutzt zu haben, ging nicht. Die Linie 4A hatte mich hierher gebracht. Sie hat ihre Endstelle kurz vor der Rotundenallee, die in den Prater führt. Ich war enttäuscht, dass es keine Straßenbahn Nummer 4 in der Straßenbahnstadt Wien gibt. Stattdessen eine Autobuslinie 4A vom Karlsplatz bis zur Wittelsbachstraße, die für den Weg vom ersten über den dritten bis an die Grenze zum zweiten Bezirk nicht länger als 15 Minuten braucht und vorwiegend durch Nachkriegsviertel führt, die träge in der Frühlingssonntagssonne liegen. Das einzige Aufregende scheint das Wort Rasumofskygasse zu sein.

Gegen Abend aber scheint etwas Bewegung in die Stadt zu kommen. Im Bus treffen sich die von der Sonne müden Praterbesucher mit denen, die im ersten Bezirk ins Theater wollen. Von Haltestelle zu Haltestelle füllt sich der Bus. Von der Rasumofskygasse kommend, biegt er an einem Platz voller Büdchen auf die Landstraßer Hauptstraße ab, wo er fast eine alte Frau anfährt, die gerade den Fußgängerüberweg quert. Sie hat sich sonntagsfein gemacht. Ihr Bechterew ist so stark, dass der Blick auf den Boden der einzige mögliche ist. Das Kreuz am Hals baumelt kurz über dem Asphalt.

An der nächsten Haltestelle steigt ein Glatzköpfiger ein, der bis über die Jochbögen tätowiert ist. Nur die linke Wange ist ausgespart. Vielleicht war die Langzeitstrafe abgesessen und sein Lieblingstätowierer blieb im Gefängnis zurück. Sie sollen ja heute aus Walkmen ausgebaute Motoren für ihr Handwerk benutzen, was sich positiv auf die Qualität auswirkt. Der Mann im Bus hat sich ein work in progress auf die Kopfhaut stechen lassen. Auf dem Hinterkopf tritt ein Golem aus der Tür und trifft auf einen im Verhältnis zu ihm riesigen Salamander, der sich mitten auf der Glatze sonnt. Letzterer war zuerst da, denn die Farben sind verblasst. Zwischendurch muss der Mann mal eine eher romantische Phase gehabt haben, die etliche Marienkäfer auf dem Kopf hinterließ. Als er am Modenapark aussteigt, starren die Einsteigenden, als würde gerade ein Außerirdischer den Bus verlassen. Er schaut sie fast hasserfüllt an. Dann verschwindet er in der Menge und der Bus fährt weiter, vorbei am Büro der Wiener Freiheitlichen, „Jetzt erst recht“ verkündet ein Plakat hinter ungeputzten Fenstern. Drei Häuser später hängt ein vergessener Weihnachtsmann an einem Balkon, einen Einbruch in eine Wohnung simulierend, die leer ist. Die Farbe seines Mantels ist vom Licht rosa ausgeblichen. Eines Tages wird er sich aus Materialmüdigkeit zu Tode stürzen. Ausgerechnet über dem Schild des Institutes für Konfliktforschung ist die Fassade des Zwischenkriegsgebäudes mit Einschusslöchern übersät, die man ansonsten nur noch selten im Stadtbild sieht. Auf der anderen Straßenseite beginnt der erste Bezirk, und die feingemachten Theaterbesucher steigen aus. Der Bus endet an dem ewigen Provisorium, das Karlsplatz heißt und einer der unbehaustetsten Plätze Europas ist. Umsäumt von Bauzäunen tut das Kunsthallencafé, als würde der Blick von der Terrasse aufs Meer gehen. Man hat Sofas und Sitzsäcke auf die Veranda gekarrt – ein Livingroom unter freiem Himmel, wo junge Menschen Designergetränke mit Strohhalmen aufnehmen. Plötzlich bricht ein Haufen Kinder durch das Gebüsch und hüpft an den Wohnzimmerbesuchern vorbei. Sie sind sonntagsfein gemacht, die Mädchen mit Kopftüchern und weißen Strümpfen, die Jungen in Anzügen, die jetzt am Abend schon etwas derangiert aussehen. Ihnen folgt sehr aufrecht und sehr groß ihre Mutter, die ihr Kopftuch in Art der Romafrauen gebunden hat. Sie trägt eine Laptoptasche. Das jüngste Kind albert im Vorübergehen mit zwei Rassehunden, die zu den jungen Hippen gehören. Wahrscheinlich geben die Besitzer für den Unterhalt der Hunde mehr Geld aus als die Mutter je zur Verfügung hat. Im selben Moment geht jenseits der breiten Allee vor dem Platz die Leuchtreklame an: „Reden wir übers Leben.“