Annett Gröschner | Linie 4 in Kasan
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Kasaner Abende

Kolumne, der Freitag online, 12.11.2004

Der Bahnhof von Kasan steht wie ein Monolith in einer steppenartigen Landschaft. Als hätte ein fremder Großsultan Ende des 19. Jahrhunderts den Kasanern eine Kathedrale zum Geschenk gemacht und sie wählen lassen, welcher Religion sie sie widmen wollten, und die Kasaner, an Religionen reich, hätten nach langen Diskussionen beschlossen, sie dem Fortschritt zu widmen, den das Eisenbahnwesen versprach.

Heutzutage ist das Bahnhofsgebäude nichts als beeindruckend, zur Ankunft wird es nicht mehr genutzt. Der Zug aus Moskau hält nach vierzehn Stunden Fahrt auf Gleis 1, das den Bahnhof nicht berührt, am Ende des Bahnsteigs kabbeln sich die Taxifahrer um die Kunden, die mit großem Gepäck anreisen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz, auf dessen Fläche mindestens zwei Fußballfelder Platz haben, sammeln sich die Straßenbahnen. Zwölf Linien gibt es in der Stadt. Man hört die Bahnen schon von weitem, weil sie in den Gelenken knacken wie Gichtkranke. Überall auf meinen Reisen fahre ich mit der Linie 4, aber ich habe noch nie eine Straßenbahn erlebt, die durch solch umsichtige, unsichtbare Kräfte am Auseinanderfallen gehindert wird. Die Wagen sind Nachbauten von tschechischen Tatrabahnen. Sie haben an der Außenhaut keine Reklame. Manchen hat man mit Hilfe von Schablonen Motive aufgetragen, die an die Bordüren russischer Folklorekleider erinnern, mit denen die Mädchen der Stadt immer noch Delegationen aus fremden Ländern begrüßen.

An der Haltestelle, wo die Bahnen ihre Fahrt durch die Stadt beginnen, stehen Frauen mit kleinen Imbisswagen. Die Coca-Cola-Schirme sind für die Steppenwinde an der Wolga nicht gemacht. Sie haben ihr Innerstes nach außen gekehrt, die Gestänge ragen wie gebrochene Rippen in den Himmel. Die Linie 4 klingelt mit einer Glocke, die mich an meine Kindheit erinnert und macht sich auf den Weg, vorbei an einem kleinen Park, in dem Obdachlose sich an einem Feuer wärmen und etwas weiter zum Rand hin herrenlose Hunde sich ungestört und mit großem Vergnügen gegenseitig ficken. Eine Schaffnerin mit Bauchtasche schiebt sich durch den Wagen. Die meisten Fahrgäste haben abgestempelte Scheine, die zur Freifahrt berechtigen. Nur ich löse einen kleinen grünen Fahrschein für fünf Rubel, auf dem der Turm abgebildet ist, von dem einst eine Prinzessin sprang, die den Führer der Mongolen nicht heiraten wollte.

Rechts und links der Straße stehen niedrige Häuser aus Stein. Der aufwendige Stuck an der Fassade erinnert daran, dass sie einmal sehr schön gewesen sein müssen. In den meisten wohnt niemand mehr, einige sind eingestürzt. Nur die Kirchen und Moscheen rechts und links erstrahlen in neuem Glanz. „Der Basar von K. bildet ein überaus buntes Bild“, hieß es 1895 im Brockhaus, und daran hat sich nichts geändert. Die Straßenbahn hält vor dem Eingang, indem sie die Bremsklötze mit voller Wucht auf die Schienen knallt.

Vor den Hallen werfen sich Verkäufer riesige Melonen zu. Sie sind so schwer, dass die Männer beim Auffangen in die Knie gehen müssen. Vielleicht werden so die Gewichtheber der russischen Olympiamannschaft entdeckt.

Die Bahn ist jetzt voll mit älteren Frauen, die große Taschen mit sich tragen. In der Kasaner Straßenbahn Nummer 4 kann es passieren, dass eine Frau sagt: „Sie kommen aus Deutschland? Ich war auch dort. Mein Mann war in Ludwigsfelde stationiert. Es war unsere schönste Zeit. Aber nun ist er tot.“

In der Kurve rollen drei lange Stahlrohre unter den Sitzen mit lautem Geräusch hin und her. Welche Funktion sie haben, ist unklar, im Gegensatz zu den Eimern mit Sand, die im Winter dazu dienen, eingefrorene Gleise wieder befahrbar zu machen.

Die Straßenbahnfahrerin ist dünn und hat den Rock ihrer Uniform eine Handbreit über den Knien abgeschnitten und umsäumt. Ihre Schuhe sind nicht unbedingt zum Fahren einer Straßenbahn geeignet, die man nur mit dem vollen Einsatz des ganzen Körpergewichts von der Stelle bekommt. Auf dem Kopf sitzt ein blaues Schiffchen, das sie in brenzligen Situationen, derer es im dichten Feierabendverkehr viele gibt, in den Nacken und wieder zurück schiebt. Aber sie tut ihre Arbeit mit soviel Anmut, Umsicht und Freundlichkeit, dass man mit ihr in der alten Schaukel bis nach Moskau fahren möchte. Dabei kommt man mit der Linie nicht einmal bis zum Hafen, da muss man an der Tatarstaner Straße umsteigen in die 7, die abends aber nur ganz selten kommt. Am Univermag, dem örtlichen Kaufhaus, nimmt die Bahn eine enge Rechtskurve, die Shigulis, Ladas und Wolgas zur Seite drängend. Hinter dem Puppentheater hat sie endlich das Gleis für sich allein und rast, als wolle sie die Gesetze der Schwerkraft endgültig außer Kraft setzen. Noch zwei Kurven und sie ist am Depot Nummer 2, ihrer Endstelle angelangt, denn die Kasaner Linie 4 ist nicht länger als drei Kilometer.

„Armes Mädchen“, sagt die dicke Schaffnerin, „du bist falsch, der Bahnhof ist am anderen Ende.“