Als die Magdeburger Mannschaft am 9. Mai 1974 überglücklich auf dem Flughafen landete und Manfred Zapf, in der einen Hand den Pokal, in der anderen eine Westplastetüte, als erster auf der Gangway erschien, hatte die Bundesrepublik zwei Tage vorher gerade eine ihrer größten politischen Krisen durchlebt, die Agentenaffäre Guillaume, die mit dem Rücktritt Willy Brandts endete. Die Partei- und Staatsführung der DDR betrachtete die Vorgänge in Bonn zynisch als innere Angelegenheit der BRD, dabei hatte sie Guillaume zu Willy Brandt ins Nest gesetzt. In der DDR war es ruhig, und ich, damals zehn, schrieb in diesen Tagen ein Gedicht für die Befreiung Luis Corvalans aus den „Fängen der chilenischen Junta“. Natürlich hatten wir am Abend zuvor alle vor dem Fernseher gesessen, sogar mein Vater hatte sich ein bißchen gefreut. Der Jubel der Magdeburger Bevölkerung war in der ganzen Stadt zu hören gewesen, freudige Schreie drangen aus diversen Wohnzimmerfenstern. Am nächsten Morgen allerdings wartete die Magdeburger Volksstimme mitnichten mit der Überschrift „Europapokal für Magdeburg“ auf. Die Hauptüberschrift hieß „Feierliche Ehrung für sowjetische Helden“, und auf dem Foto waren nicht unsere Jungs, sondern die uralten Mitglieder der Partei- und Staatsführung der DDR zu sehen, die am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow anläßlich des 29. Jahrestages der Befreiung Kränze niederlegten. Nur rechts oben auf die Seite hatte man ein „1. FC Magdeburg – AC Mailand 2:0“ gequetscht. Und auch einen Tag später, am 10. Mai, war unter der Überschrift „Bravo, 1. FCM“ nur eine schmale Spalte auf der ersten Seite reserviert. Viel wichtiger war dem „Organ der Bezirksleitung Magdeburg der SED“ der 10. Kongreß der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. „Heiß lodert die Flamme unserer Freundschaft. Triumphaler Weg des Freundschaftssymbols durch unseren Bezirk“ war der Aufmacher des Tages. „Getragen von einer Woge tiefer Sympathie und einem begeisterten Bekenntnis zur unverbrüchlichen Freundschaft unserer brüderlich verbundenen Völker, nahm gestern die Flamme der Freundschaft ihren Weg durch unseren Bezirk.“
Wer heute das Leben in der DDR anhand ihrer Zeitungen zu ermitteln versucht, wird immer nur die falschen Schlüsse ziehen können. Für die Flamme der Freundschaft hatten sich nicht einmal die erwärmen können, die zu dieser Veranstaltung hinverpflichtet worden waren.
Am gleichen Tag kamen Tausende schon lange vor der geplanten Ankunftszeit um 17 Uhr auf den Alten Markt ‑ und ohne daß sie dazu aufgeforderet worden waren ‑ um ihren 1. FC Magdeburg zu begrüßen. Solch eine Kundgebung hat Magdeburg in den Jahren der DDR weder vorher noch nachher gesehen. Die Volksstimme schrieb lapidar: „Mit großem Jubel empfingen gestern viele Magdeburger Fußballanhänger den 1. FCM nach seiner Rückkehr aus Rotterdam, wo er zum ersten Mal in der Geschichte des DDR-Klubfußballs den Europapokal für die Farben der DDR gewonnen hatte. Hochrufe und Gesänge auf die Mannschaft, auf die Trainer und Funktionäre unterbrachen immer wieder die Begrüßungsrede des Genossen Alois Pisnik [im Magdeburger Dialekt Pißnich, A.G.], Mitglied des ZK der SED und 1. Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg. (…) ‚Ihr seid ein würdiger Repräsentant unseres Fußballsports‘, rief Alois Pisnik aus. ‚Wir sind stolz auf euch, Ihr habt unsere DDR im Ausland hervorragend vertreten. Besonders freuen wir uns, daß alle Spieler des FCM Kinder des Bezirkes Magdeburg sind.‘ Stürmischer Beifall quittierte diese Feststellungen. Alois Pisnik verwies auf die symbolische Bedeutung, daß ausgerechnet am 8. Mai, dem 29. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, dieser große sportliche und politische Erfolg durch Sportler unseres sozialistischen Staates errungen wurde.“
Auch die Partei- und Staatsführung schickte Glückwunschtelegramme. Erich Honecker telegrafierte: „Liebe Sportfreunde, mit bewundernswertem Kampfgeist, hoher taktischer Disziplin und gewachsenem sportlichen Können haben Sie den Europapokal der Pokalsieger errungen und vielen Fußballfreunden der Deutschen Demokratischen Republik große Freude bereitet. Ich beglückwünsche Sie sehr herzlich zu dieser hervorragenden Leistung und wünsche Ihnen auch weiterhin besten Erfolg.“ Diese Glückwünsche aber waren nicht relevant. Die meisten Zuschauer interessierte nicht der politische Erfolg. Sie waren bestenfalls Lokalpatrioten. Und auch den Funktionären jubelten sie nicht zu, sondern den Langhaarigen, die auf der provisorischen Lastwagenbühne standen und strahlten. Und Manfred Zapf, der gemeinsam mit Ulrich Schulze immer wieder den Pokal hochhalten mußte, gab es ihnen zurück: „Besonderen Dank möchte ich euch, liebe Magdeburger Anhänger aussprechen, die ihr uns in den Heim- und Auswärtsspielen immer die Treue gehalten und uns für diese Leistung den Rücken gestärkt habt.“ Das Sportecho schrieb: „Mannschaftsarzt Heinz Eckardt gestand später, daß sich nicht wenige verstohlen die Tränen aus den Augen gewischt hätten. Darunter auch Klaus Decker, der wegen seiner Sperre das Endspiel nicht erleben konnte.“
Für Knut Jürries waren die Fans, die seit Jahren zum FCM hielten, das Entscheidende. „Ich erinnere mich noch an dieses Foto, für mich ist das ganz berühmt, wo die Fußballer aus Rotterdam zurückgekommen sind mit ihrem Europapokal auf dem Arm. Das ist so ein bißchen von unten fotografiert, hoch auf die Tribüne. Da siehst du an der Seite einen alten Mann, der typische SKETler, kurz vor der Rente. Und der guckt da so hoch, mit halb offenem Mund, und die Augen so richtig glühend, du siehst, der ist völlig hin und weg, daß diese Truppe als Europapokalsieger zurückgekommen ist. Und das war damals der typische Magdeburger Fußballfan. Das waren diese Alten, die SKET-Arbeiter, und die waren nicht ansatzweise so primitiv wie man heute die Fußballfans so im allgemeinen kennt.“ Erst in den späten Abendstunden gingen die letzten Zuschauer nach Hause. Aber nicht alle Spieler hatten nach Magdeburg zurückkommen können. Neben Pommerenke, Tyll, Hoffmann und dem Schützen des Siegestors, Seguin, fehlte auch Jürgen Sparwasser: „Ich habe leider diesen Augenblick auf dem Alten Markt nicht miterleben können. Diejenigen von uns, die für die WM nominiert waren, sind von Rotterdam aus direkt nach Schweden ins Trainingslager gefahren. Ich habe das sehr bedauert. Die Zeremonie auf dem Platz muß super gewesen sein. Es hatte ja einen Stellenwert, einen Europapokal zu holen, und dann noch gegen den AC Mailand.“
Kapitän Manfred Zapf gab dem Deutschen Sportecho zu Protokoll: „Einen temperamentvolleren Bahnhof hätte der AC bei einem Sieg wohl auch nicht in Mailand erlebt.“
Am darauffolgenden Freitag lud die Bezirksleitung der SED die Fußballer und ihre Frauen, aber auch ehemalige Akteure wie Retschlag und Stöcker sowie Vertreter des SKET zu einem Empfang in den Ratskeller ein. Dort mußten sie sich vor dem Essen nochmal eine Rede von Alois Pisnik anhören. „Die gute kollektive Zusammenarbeit zwischen der Klubleitung, Cheftrainer Heinz Krügel und den Aktiven sowie die große Unterstützung durch die verschiedensten Institutionen ließen Magdeburg zu einer geachteten Fußballstadt werden.“
Die Mannschaft wußte noch nicht, daß sie am Zenit ihres Erfolges angekommen war. Die Volksstimme freute sich darüber, daß alle Gäste „wie eine große Familie“ beisammensaßen. Aber wie in den antiken Tragödien saßen diejenigen schon mit in der Runde, die zwei Jahre später dem Cheftrainer Heinz Krügel den Todesstoß versetzen sollten.
Der ließ noch einmal das Siegerfoto von Rotterdam mit dem Pokal nachstellen. Diesmal aber mit den Frauen der Fußballer, auch mit denen, die am Damentisch gesessen hatten, weil ihre Männer inzwischen in Schweden waren: Christa Sparwasser, Sylvia Pommerenke, Karin Tyll und Annelore Seguin. Das Sportecho schrieb: „ ‚Das ist mehr als eine weibliche Ersatzmannschaft‘, schmunzelte Heinz Krügel. ‚Denn auch von ihnen hängt der Erfolg des Klubs ab, von ihrem Verständnis und ihrer Hilfe.‘“
Leider ist dieses Foto heute nicht mehr aufzutreiben.
Erstmals durfte der Pokal beim Turn- und Sporttag vom 24. –26. Mai in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle als Beweis „der gewachsenen Leistungsstärke des DDR-Sports“ von der Bevölkerung bewundert werden. Dann aber kam er ins Schaufenster des Magdeburger Centrum-Warenhauses, das erst ein halbes Jahr zuvor an der Stirnseite des Alten Marktes eröffnet worden war. Wir pilgerten alle hin. Zwar war der Pokal mit seinen Henkelohren, wie alle diese Trophäen, von ausgesuchter Häßlichkeit, aber Ästhetik spielte in Magdeburg und wohl auch bei der UEFA keine große Rolle.