Annett Gröschner | Bernd Heyden
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Bernd Heyden

Berlin NO 55

Bernd Heyden war Berliner, genauer Prenzlauer Berger des Postbezirks NO 55, auch wenn er 1940 in Swinemünde geboren wurde.

Bernd Heyden war Fotograf, auch wenn er das Handwerk des Schneiders erlernt hat.

Mit seinen Bildern führt er uns in eine Welt, die noch verortbar ist, aber nicht mehr vorhanden. Als wäre ein Gemälde in gedeckten Farben mit dicken grellen Farbschichten überspachtelt worden. Der Titel des Bildes ist der gleiche geblieben. Berlin, Ecke Prenzlauer. So heißt der Bildband, den Mathias Bertram 2008 in der Reihe des Lehmstedt Verlages herausgab. Er hat auch die Ausstellung hier kuratiert.
Als ich für die Vorbereitung meiner Rede das Buch aus dem Regal mit den Bildbänden holte und aufschlug, fiel mir ein handgeschriebener Zettel entgegen: Artur Heyden, Schneider, Lippehner Straße 30. Schon damals, als ich das Buch das erste Mal in der Hand hatte und noch in ebenjenem legendären Postbezirk NO 55 rechts der Greifswalder Straße im Bötzowviertel wohnte, war ich neugierig, wo denn die Wurzeln Bernd Heydens lagen. Die Lippehner Straße wurde 1974 in Käthe-Niederkirchner-Straße umbenannt, eine Prenzlauer Berger Schneiderin übrigens, bevor sie in den kommunistischen Untergrund ging und mit dem Fallschirm über der besetzten Sowjetunion absprang.

Neben Artur Heyden gab es 1942 in der Nummer 30 unter den 37 Mietparteien zwei weitere Schneider, eine Schneidermeisterin, eine Näherin und eine Lederstepperin. Und am Ende der Straße auf der Greifswalder Straße das Heeresbekleidungsamt, später das VEB Treffmodelle, in dem Bernd Heyden eine Zeitlang arbeitete und dem Helga Paris ein fotografisches Denkmal gesetzt hat, bevor es zu Lofts umgebaut wurde.
„Im Bötzowviertel wuchs Bernd Heyden auf, bei Schneidermeister Hircher in der Hufelandstraße Hufelandstraße ging er in die Lehre, arbeitete als Bügler in einer Textilfabrik an der Greifswalder, hatte ein Fotolabor in der Stargarder und starb mit 43 an Alkoholsucht in einer Erdgeschosswohnung in der Christburger“, so hat Jutta Voigt in der Berliner Zeitung sein Prenzlauer Berger Leben zusammengefasst.
Seine ersten Fotos sind um 1965 überliefert und zeigen Konzertaufnahmen, Demonstrationen und das Leben auf und an der Pferderennbahn, ein Buch darüber erschien im Lehmstedt Verlag. Ab 1969 fotografierte Heyden ein Jahrzehnt die ihm wohlbekannten Straßen und Häuser nebst ihrer Bewohner.
Immer verdanken sich seine Fotos einer sehr genauen Beobachtung, die Bernd Heyden als persönlicher Fahrer, der er eine Zeitlang war, in den langen Phasen des Wartens auf seinen Chef trainieren konnte, bevor er 1976 freiberuflich wurde. Neben diesem genauen Blick für Situationen hatte er auch ein Gespür für Komposition, und das, was Mathias Bertram „melancholischen Humor“ nennt, der vor allem seine Prenzlauer-Berg-Aufnahmen, die hier zu sehen sind, prägt.

Ab Ende der 50er Jahre gab es eine von Partei und Staat initiierte Bewegung schreibender, malender, fotografierender Arbeiter. Kumpel sollten zur Feder greifen und Schneider fotografieren. Aber wenn es dann jemand ernst nahm und aus der Innenperspektive Werke schaffte, die mehr mit der Realität aus Graubrot, Faustschlag und Schnaps als mit dem Sozialistischen Realismus zu tun hatten, dann hagelte es Kritik und Verbote. Bewährung in der Produktion allerdings fiel als Strafe aus. So ging es späteren Schriftstellern wie Werner Bräunig und Wolfgang Hilbig; Bernd Heyden wurde als „Müllkastenfotograf“ geschmäht. Auf seinen Bildern sieht man mit dem eingeweihten, aber inzwischen fremdgewordenen Blick auch, wie schön eigentlich die Mülltonnen waren. So schön wie die Gothaer Straßenbahnen, nach denen sich Heyden sehnte, wenn er einen Tag zu lange in der Natur war. Der Fotograf Arno Fischer, der ihn ermutigte und der den Club junger Fotografen leitete, den Bernd Heyden ab 1967 besuchte, sagte, er habe „die Dreckecken mit Poesie gefüllt, da ist seine Seele drin.“ Lyrische Bilder wie die der „toten, selbstvergessenen Mäuse“ der Elke Erb „im Treppenhaus der Kastanienallee 30 nachmittags um halb fünf im Jahr 1981“, das erste Gedicht aus ihrem Band Kastanienallee, passen kongenial zu den Fotografien. Grischa Meyer hat 2004 eine Verbindung zwischen den frühen Gedichten Thomas Braschs und den Bildern Bernd Heydens gezogen, aber auch der ebenfalls früh verstorbene Pankower Lyriker Uwe Gressmann wäre hier als Gleichgesinnter zu nennen. Gemeinsam ist  allen die Gabe der Beobachtung bei gleichzeitiger Unkorrumpierbarkeit. Nichts wird beschönigt und nichts verhöhnt, was nicht der gängigen Norm entspricht.

Bernd Heyden war einer von denen, die er abbildete. Er zeigt, dass die Leute, die immer als „klein“ oder „einfach“ beschrieben werden, es nie sind, dass diese Einschätzung immer auch eine Herabwürdigung in sich trägt.

In seinem erwachsenen Gesicht der Porträts, die Michael Weidt 1974 von ihm gemacht hat, sieht man noch das Gesicht des Jungen aus der Lippehner, der sicherlich einer Kinderbande angehörte, die nach Straßen aufgeteilt waren. Es gab sie auch in den siebziger Jahren noch, auch wenn sie langsam an Mitgliedern verloren. Der Prenzlauer Berg war ein Viertel im Umbruch, kurz vorm geplanten Abbruch, der dann aus Kostengründen nicht stattfand. Familien zogen in die Plattenbauten östlich der Ringbahn, die ersten in den Siebzigern nach Lichtenberg, dann nach Hohenschönhausen, Marzahn oder Hellersdorf, wo es Bäder gab, Balkons und Licht. Künstler und Lebenskünstler zogen in die leeren Wohnungen, es war der freieste Ort der DDR.

Die Fotografien, die hier zu sehen sind, entstanden alle zwischen 1970 und 1980. Mathias Bertram hat sie aus ungefähr 1000 Motiven ausgewählt. Insgesamt 27 000 Negative hat Heyden hinterlassen.

Als Bernd Heyden 1984 an seiner Trunksucht starb, war ich gerade ein Jahr in Ostberlin. Die Uhren gingen noch langsam Anfang der achtziger Jahre. Nur das Gaswerk verschwand und mit ihm die Arbeiter, die nach der Schicht auf die Greifswalder Straße spuckten, vielleicht, weil das Gas die Kehlen austrocknete. Vereinzelt wurden Häuser saniert und sahen hinterher nicht anders aus, hatten aber Warmwasser und Innentoilette. Die Kohlenträger kamen weiterhin mindestens einmal im Jahr.

Und es gab noch den Anblick einer Leerstelle, der fehlenden Arme und Beine, hier vertreten in dem Bild des Holzbeins am Tor eines Hauses. Ein Bein geht einsam durch die Welt, es ist ein Bein, sonst nichts.
Grischa Meyer schrieb 2004: „Der scheue zärtliche Blick, mit dem Heyden seine nächste Umgebung betrachtet, die er nie verlassen hat – den Prenzlauer Berg mit seinen Außenseitern und Gescheiterten – lässt eine Sehnsucht nach Nähe, Wärme und Geborgenheit erkennen, um die er in seiner Kindheit im Krieg und Nachkrieg gebracht worden war (…) Sein Leben dauerte nicht lang genau, um aus ihm einen selbstgewissen Profi zu machen. So blieb er ‚ungelernt’ zwischen Anspruch und Zweifel, voller Leidenschaft.“ Nie verließ ihn die Angst, den hohen Maßstäben nicht zu genügen, nur ein Autodidakt unter diplomierten Künstlern zu sein.
Manche der Bilder haben das Zeug zu Ikonen. Die feingemachte Frau vor dem Kännchen Kaffee im Wiener Café, die durch das Bild hindurch nach Einsamkeit riecht und die berufsmäßige Beflissenheit des Stehgeigers, oder die lachenden Kohlenträger auf der Gleimstraße. Die, die blieben, hingen an ihrem Viertel. Mochten Fremde oder Zugezogene denken, dass alles gleich aussah, gab es doch ein sehr ausgeprägtes Gefühl für die feinen Unterschiede.

Meine alte Nachbarin, die 1999 nach 50 Jahren aus ihrer Wohnung im Bötzowviertel ausziehen musste und eine Ersatzwohnung in der Kollwitzstraße bekommen sollte, rannte über den Hof und schrie: „Lieber sterb’ ick, als zu den Proleten zu ziehen.“ Das Bötzowviertel galt immer als das bürgerlichste Viertel, was aber mehr an der Bauordnung lag. Weil es erst nach der Jahrhundertwende entstand, waren enge und viele Hinterhöfe und große Fabriken auf den Höfen nicht mehr erlaubt. Aber vornehm war es hier trotzdem nicht, und wenn die neuen Eigentümer heute goldene Klingelschilder an die Türen schrauben und Sisalteppiche mit Messingstangen ins Treppenhaus legen, dann ist eher ihrer Gier nach Rendite geschuldet als einer irgendwie gearteten guten alten Zeit.

Nebenbei: Mit welcher Würde die Fassaden gealtert waren, trotz Industrieablagerungen, Einschüssen und Rauhputzmode. Und wie schnell eine styroporgedämmte Fassade alt aussieht und aus terrakottafarben rosa wird.

Andere haben Bernd Heydens Arbeit weitergeführt, mit anderem Blick und mit mehr Zeit. Harf Zimmermann zum Beispiel, der Anfang der achtziger Jahre ebenfalls unter der Mentorenschaft von Arno Fischer, anfing, Häuser und Menschen der Hufelandstraße im Bötzowviertel zu fotografieren und das 2009 noch einmal im Auftrag der Zeitschrift Geo wiederholte, mit einer fast völlig ausgetauschten Bevölkerung. Oder Helga Paris, in deren Werk es ähnliche Motive gibt. Ganz besonders fiel mir das beim Betrachten von Heydens Mann mit Metallplatte, Marienburger Straße, von 1976 auf. Ein wohlkomponiertes Bild von fast geometrischer Genauigkeit. Ein Mann, der eine große dünne sich biegende Metallplatte über die Straße trägt. Für mich korrespondiert es mit meinem Lieblingsfoto von Helga Paris, fast zur selben Zeit und nur hundert Meter entfernt fotografiert: am Straßenrand vereinzelte Autos, die Fassaden der Gründerzeithäuser grau, grau der Himmel, die Mäntel der Leute, die Straßenschilder. Obwohl das Licht von Süden kommt, hängt ein Nebel über der Straße. Etwas Lebendiges, Unverwechselbares aber gibt es auf dem Foto: eine Taube mit weitausgebreiteten Flügeln, grau wie alles andere, aber im Abflug. Und wenn ich es genau betrachte, könnte die Metallplatte bei Bernd Heyden auch zwei Flügel sein, die gerade Schwung holen und den Mann mitnehmen.

Von den Straßen sind heute nur noch die Pflastersteine identisch. Von den Häusern noch die nach wie vor verrotteten Keller, nun ohne Kohle und Einkellerungskartoffeln. Von den Müllmännern, Invaliden, Pferdekutschern, Schornsteinfegern, Lackierern, Puppendoktorinnen, Trinkern, Hundfriseurinnen sind die Müllmänner und die heimlichen Trinker übriggeblieben. Eine fast erblindete Postfrau, wie die in der Schliemannstraße, der zuliebe man die Namen in dreifacher Größe auf den Postkasten klebte, wäre heute undenkbar. Oder der Kohlenträger ohne Nase. Zwei vernarbte Löcher im Gesicht, vom Schmutz der Kohlen unsichtbar gemacht. In der Bötzowstraße musste 2012 das Beerdigungsinstitut einem Delikatessenladen weichen; aus „strukturellen Gründen“, stand auf dem Schild, auf dem der Eigentümer seinen treuen Kunden dankte. Im Bötzowviertel geben jetzt Menschen den Ton an, die mit ihrer herausgestellten Individualität monotoner wirken als die grauen Fassaden vor der Wende. Ein Schneider oder ein Lackierer kann sich hier keine Wohnung mehr leisten und wenn er es noch geschafft hat, seine alte zu halten, ist schon eine Rechtsanwaltspraxis auf dem Sprung, Eigenbedarf für die gutbetuchte Klientel durchzusetzen. Trotzdem gibt es immer noch ein paar Maskottchen der älteren Zeit.

An einem Sonnabend vor vier Jahren zum Beispiel stand eine nicht mehr ganz junge, kräftige Frau mit splitternacktem Oberkörper am offenen Fenster in der vierten Etage eines Hinterhauses im Bötzowviertel und wischte ihr Fensterbrett so heftig, dass ihre Brüste baumelten. Mit der linken Hand hielt sie ein Handy ans Ohr, in das sie kräftig berlinerte. „Det lass ick ma nich jefallen.“ Worum es ging? Keine Ahnung. Als sie mit dem Fensterbrett fertig war, knallte sie das Fenster zu. Blumentöpfe flogen nicht, aber besorgte Eltern zogen ihre Kinder weg. (Sie würden wahrscheinlich schon aus ernährungsidelogischen Gründen ihre Kinder auch wegziehen, wenn die beiden Fleischer aus dem Heydenschen Kosmos mit zwei toten Tieren über der Schulter plötzlich auf der Bötzowstraße auftauchten.) Sie konnten sie überhaupt nur deshalb sehen, weil das Vorderhaus vor siebzig Jahren weggebombt worden war. Die Frau am offenen Fenster war eine dieser Alteingesessenen, aus der Zeit gefallen, aber nicht auf den Kopf. Zu dieser Zeit waren schon 80 Prozent derer weg, die Anfang der Neunziger Jahre im Viertel gewohnt hatten. Manchmal kam ich mir vor wie in der Truman Show. Alles nur Fassade und der Horizont aus Pappe. Das Haus der Frau mit den baumelnden Brüsten wurde saniert, sie verschwand, ich verlor meine Wohnung.

Die Welt des Bernd Heyden ist unwiederbringlich verloren und es gibt wenig Gründe, ihr nachzutrauern. Aber sie war auch nicht so grau, wie uns das Schwarz-Weiß der Bilder suggeriert. Schon ein blauer Luftballon oder eine rote Fahne, der bunte Rock aus einem Westpaket oder ein Lolliball konnten das Bild verändern.

Bei Wolfgng Hilbig war es ein grüner Fasan auf dem Brikettberg.
Bei Heyden ist es im übertragenen Sinne ein Pfau, der ein Rad schlägt auf einem Müllkasten.

Rede im Willy-Brandt-Haus, Berlin, anlässlich der Ausstellungseröffnung Berlin Prenzlauer Berg – Fotografien 1969-1980 von Bernd Heyden am 22. September 2016