Vor mehr als zehn Jahren, als der Prenzlauer Berg noch ein sozial durchmischter Berliner Bezirk war, stand am Straßenrand ein rostiges rotes Auto, ein Passat Kombi mit weißen Streifen. Am Heckfenster klebte ein Schild, auf dem es sinngemäß hieß: „Als Gott Union schuf, schuf er ein Meisterwerk.“ Es war die Zeit, als der 1. FC Union Berlin mal wieder ganz unten war und die Fans ihre Sparschweine leerten, um ihren Verein nicht ins Bodenlose fallen zu lassen.
An den Fußballmannschaften kann man die Verwerfungen der Nachwendezeit im Osten Deutschlands Pars pro Toto erzählen. Es sind Geschichten zwischen Klassenerhalt und Abstieg bis in den Keller, Wiederaufstieg und Konsolidierung, Gier und Geiz, von falschen Beratern, Verunsicherung, Arroganz der Wessis, vom Trotz der Anhänger, von Zweitklassigkeit aus Mangel an zahlungskräftigen oder Überschuss an falschen Sponsoren.
Die Anzahl der Ligen, in denen der 1. FC Union nach 1990 spielte, ist unübersichtlich, Umstrukturierungen gab es viele, Union-Fans haben Orte kennengelernt, für deren Lage sie sich erst einen Verkehrsatlas der Bundesrepublik besorgen mussten. Das Besondere an dem Klub ist die Symbiose von Fans und Verein, die über die Jahrzehnte so gewachsen ist, dass das eine vom anderen kaum zu unterscheiden ist und selbst der Präsident aus den Reihen der Stehplatzfans kommt.
RB Leipzig steht für alles, was die Unioner verachten
Union war schon im Spielbetrieb der DDR ein Fahrstuhlverein, den entweder die Staatsmacht oder die Weltpolitik am dauerhaften Aufstieg hinderte, der aber von seinen Fans mit allem, was zur Verfügung stand, verteidigt wurde. Fünfmal ist Union aus der DDR-Oberliga abgestiegen, und oft war man nach einer Saison wieder zurück. 1968 gab es den größten Triumph, als die Mannschaft gegen alle Widrigkeiten DDR-Pokalsieger wurde. Ein Fan ist nur echt, wenn er die Aufstellung im Schlaf herbeten kann.
Ich bin kein Fan, ich bin Sympathisantin. Als ich 1983 nach Ostberlin zog, war es keine Frage, dass ich für Union bin, schon um dem verhassten BFC Dynamo eins auszuwischen. Viele Ostberliner hatten einen bevorzugten Verein im Osten und einen im Westen, nicht wenige waren für Union und fieberten bei Hertha BSC mit, bei der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften mussten sie sich entscheiden. Dabei war in den 90er-Jahren gar nicht Hertha BSC der größte Konkurrent, sondern Tennis Borussia, ein Gegner, der inzwischen sechstklassig gegen Mannschaften wie SV Victoria Seelow oder SV Lichtenberg 47 antritt.
Heute ist es RB Leipzig, der sich mit viel Geld eines Süßgetränksponsors in die Erste Liga katapultiert hat und für alles steht, was Union-Fans verachten. Sie hielten zu ihrem Verein nach Lizenzentzug 1993, Beinahe-Konkurs 1997 und dem Absturz in die Vierte Liga 2004. 2008/2009 haben sie das Stadion An der Alten Försterei mit umgebaut, weil sie partout nicht von dem Ort lassen wollen. Er hat den Vorteil, nur Fußballstadion und mit 22.000 Plätzen von so überschaubarer Größe zu sein, dass jeder Zuschauer live dabei ist und es der Großleinwände nicht bedarf. Hier kann man noch den Schweiß der Spieler riechen.
Vor fünf Jahren kauften die Fans das Stadion, dieses Vereinswohnzimmer seit fast 100 Jahren, indem 4136 von ihnen Alte-Försterei-Aktien im Wert von 2,73 Millionen Euro und somit 44% der Stadionbetriebs AG erwarben. Niemand wird dieses Stadion nach einer Versicherung, Toilettenpapier, Gashersteller oder Handybetreiber benennen.
Lange wurde Union vorgeworfen, keine Mannschaft für Ganz-Berlin zu sein, sondern in der Ostmentalität zu verharren. Aber jede anständige Metropole hat mehr als eine Fußballmannschaft, und immer gibt es Gründe, für die eine oder die andere zu sein. Seit 1998 singen sie das Lied von Nina Hagen mit, das musikalisch wie von Rammstein klingt: „Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? EISERN UNION“.
Man könnte natürlich auch den DDR-Kram vergessen und mit den slawischen Kietzen argumentieren, heidnischen Vororten in Köpenick, wo heute Stadion und Sitz des Vereins sich befinden. Der Köpenicker Kiez bewahrte sich bis ins 19. Jahrhundert seine kommunalrechtliche Eigenständigkeit durch jede Menge Eigensinn. Egal, welche Ordnung gerade herrscht, es geht darum, sie zu überlisten. Union hat sich durch alle Moden souverän bewegt. Das Signet ist seit DDR-Zeiten nicht verändert worden, und es gibt immer noch die alte Steckanzeigetafel, die per Hand bedient wird, die elektronische haben BFC-Dynamo-Fans, so schreibt es Jörn Luther in der 2015 erschienenen Fußballfibel über den 1. FC Union Berlin, 1991 zertrümmert.
„Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?“
Inzwischen ist Berlin kräftig durchmischt und ein aufrechter Union-Fan kann auch aus Charlottenburg oder Zehlendorf kommen, solange er nicht nur den Schal trägt, weil es gerade in ist und er vor Ende geht, wenn die Mannschaft einen schlechten Tag hat. Es gibt Unioner, für die ist das Stadion Heimat per Geburt und es gibt Unioner, für die ist es ein Zuhause in dem Sinne, wie es Daniel Schreiber beschreibt: ein Ort, den wir uns erarbeiten. Als Kind einer Union-Familie für Hertha zu sein, ist sicher eine Herausforderung für alle Beteiligten. 15.000 Vereinsmitglieder gibt es inzwischen, die Zahl kommt den Plätzen im Stadion gefährlich nahe.
Mein eindrücklichstes Spiel im Stadion An der Alten Försterei war 2012, als in den ersten zwölf Minuten aus Protest gegen das neue, die Fans benachteiligende Sicherheitskonzept der DFL Schweigen herrschte auf den Rängen, das, je länger es dauerte, immer unerträglicher wurde. Man hörte die Schritte, die Abstöße, die Pfiffe des Schiedsrichters, die S-Bahn und die Vögel, man hörte das Atmen der Zuschauer, aber keine einzige Stimme. Die Zeit verging nicht, die Zuschauer bissen sich auf die Lippen, die Kinder hörten auf zu plappern. Unten kickten sie hin und her wie bei einem Geisterspiel. Alle schauten auf die Uhr, bis die Zeit um war und die Schreie sich Bahn brachen, als wäre das entscheidende Aufstiegstor gefallen.
Toleranz und Weltoffenheit, die sich Verein und Wirtschaftsrat des 1. FC Union unter anderem mit einem Jobnetzwerk für Geflüchtete auf die Fahnen geschrieben haben, kommen nicht bei allen Fans an. Auf die Ablehnung einer stärkeren Kommerzialisierung dagegen können sich bisher alle verständigen. Was aber wird passieren, wenn es wirklich mit der Ersten Liga klappt und die Big Player ihre Offerten abgeben und mitbestimmen wollen?
Seit 2009 spielt Union ununterbrochen in der Zweiten Liga
Das Branchenbuch der Union-Sponsoren und -Partner hat 294 Seiten, es sind meist kleine, maximal mittelständische Betriebe, eine Etage der Haupttribüne heißt Schlosserei, obwohl die Industrie in Oberschöneweide Geschichte ist. Die Schlosserjungs sind Teil der Legende, die vor jedem Heimspiel in raunendem Märchenton erzählt wird: „Es war einmal …“
Eine andere ist der Ur-Anlass des inzwischen weltberühmten Weihnachtssingens: Ein paar Fans haben einen Tag vor Heiligabend 2003, nach einer deprimierenden Niederlage gegen Wacker Burghausen, illegal den Rasen betreten und bei Kerzenschein leise weinend Weihnachtslieder gesungen. Seitdem wird das Weihnachtssingen zum Leidwesen der beinharten Fans von Jahr zu Jahr populärer. Als ich vor ein paar Jahren mit einem Professor für Religionswissenschaften teilnahm, sagte der nach Pfarrer Bläsergruppe und Kinderchor und angesichts der inbrünstig singenden Fans in Familie und mit Kerze in der Hand nur trocken: „Das kriegt in diesem Landstrich keine Kirche mehr hin.“
Seit 2009 spielt die Mannschaft nach zehnmaligem Scheitern ununterbrochen in der Zweiten Bundesliga. Mit Jens Keller gibt es endlich wieder einen Trainer, der wie ein Eigengewächs wirkt. Nach wie vor ist der Kampfeswille größer als die spielerische Finesse. Und plötzlich gibt es zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte eine Chance auf den Aufstieg in die Erste Bundesliga, die erste, 2002, wurde am 32. Spieltag versemmelt.
„Scheiße, wir steigen auf!“
„Akute Aufstiegsgefahr“ heißt das im Jargon des vorzüglichen, ebenfalls von Fans gemachten Programmhefts, das äußerlich im Stil des Trikots von 1968 daherkommt. Auf der Waldseite des Stadions, bei den Ultras, macht seit der Rückrunde ein Transparent Furore: „Scheiße, wir steigen auf!“ Nach dem unglücklichen Remis in Düsseldorf hat die Mannschaft jetzt ausgerechnet ihren Angstgegner Kaiserslautern geschlagen. „Nie mehr Zweite Liga!“ Kieken wa ma.
Auf meine Anfrage beim Verein, wie der genaue Wortlaut des Spruchs mit dem Gott, der Union erschuf, sei, antwortete mir der Chronist Gerald Karpa, er kenne nur den: „Als Gott die Welt erschuf, sprach er zu den Steinen: ‚Wollt ihr Unioner werden?‘ Und die Steine antworteten: ‚Ja, aber wir sind nicht hart genug!‘“
Veröffentlicht online am 16.04.2017 auf Welt.de