Er stand in einem blauen Overall am Zaun und wischte sich die Finger an einem roten Lumpen ab, der unter all den Gegenständen des in der Erinnerung eingefrorenen Bildes immer noch hervorstach. Die Farbe des Stoffes war blasser geworden mit der Zeit und vieles, was damals geschehen war, hatte sich aus dem Gedächtnis verflüchtigt, als wäre es nichtig gewesen. Sie hielt ihn von weitem für einen Polen, der am Zaun stand und die Gruppe von Studentinnen beobachtete, die sich mit ihren Hacken an den Rasenkanten zu schaffen machten. Es war sinnlos, hier Unkraut zu jäten, aber die Teilnahme am Studentensommer war die einzige Möglichkeit, ein Visa für Polen zu bekommen, und Geld gab es auch. Wenn man sich beschwerte, bekam man vielleicht eine nützliche, aber schwerere Arbeit. Das Grundstück gehörte der polnischen Staatsbahn, auf dem niemand etwas zu tun hatte, außer ein paar Männern, die vor einer Garage mit der Reparatur schrottreifer Autos beschäftigt waren, die ganz sicher ihnen und nicht der Staatsbahn gehörten, denn dafür gingen die Männer zu liebevoll mit ihnen um.
Er stand auf der anderen Seite des Maschendrahtzaunes und hob die Hand. Sie wußte nicht, ob sie gemeint war und beugte sich wieder über ihre Hacke, die auf den Beton des Randsteins traf. Das Geräusch verursachte ihr eine Gänsehaut, die sich von den Unterarmen bis in den Nacken zog. Als sie erneut aufblickte, winkte er sie deutlicher heran. Sie lehnte die Hacke gegen einen Baum und ging langsam auf ihn zu, währenddessen er sich die Finger immer wieder an dem roten Stoff abwischte, ohne daß sie sauberer wurden. Beim Näherkommen sah sie, daß es ein Student ihrer Sektion war. Er hatte im letzten Semester die Einführungsrede gehalten und es schien ihr damals, als hätte er unter den 400 Studenten vor allem sich selber von dem überzeugen müssen, was er da redete über die führende Rolle der Partei. Er hatte die Zuhörer nicht angeschaut, sondern den Arm so auf den Tisch gestützt, daß er mit dem Gesicht nicht ins Auditorium, sondern zur Wand schauen konnte, von der Anna Seghers lächelte. Als er anfing zu reden, war er ihr gleichgültig gewesen, sie hatte unter der Bank ein Buch gelesen, aber wie er sich da oben wand über dem Manuskript, das wahrscheinlich nicht er verfaßt hatte, da schaute sie genauer hin und fragte ihren Nachbarn nach seinem Namen. „Man nennt ihn Tad“, sagte der, „soll eine Koryphäe der Literaturwissenschaft sein, trotzdem er erst im dritten Semester ist, ein bißchen arrogant, redet jedenfalls nicht mit jedem. Wahrscheinlich ist das hier der Preis für ein Forschungsstudium.“
Wochen später sah sie ihn durch ihre Straße gehen. Er trug einen Beutel mit Milch in der Hand, den er beim Gehen in die Luft warf und wieder auffing. Er wirkte, als könne ihm diese schmutzige Gegend nichts anhaben, als sei er nur ein zufälliger Passant von einem anderen Planeten.
„Ich bin Tad“, sagte er. „Ich weiß“, sagte sie. Sie redeten noch, als der polnische Brigadeleiter, der im Schatten geschlafen hatte, zum Aufbruch pfiff. Nebenan waren Sirenen zu hören. In der Möbelfabrik war ein Feuer ausgebrochen. Die einen sagten, es sei Sabotage von Solidarnosc gewesen, andere hielten die Tonnen von Farbe, die unsachgemäß in einem Gewächshaus gelagert waren, für den Grund.
Der Wagen 269 des Expreß-Zuges von Berlin nach Warschau hängt als leere Hülle am Ende des Zuges. Es ist ein polnischer Großraumwagen, der Strom ist ausgefallen, die Heizung geht nicht. Die Elektrik im Wagen ist mit dem westeuropäischen System der Stromversorgung nicht kompatibel. Wenn der Zug die polnische Grenze in Richtung Berlin überquert, wird es kalt im Wagen, manchmal sitzen die Reisenden auch nur im Dunkeln. Nach einiger Zeit kommt ein Mann in einem Overall der polnischen Staatsbahn, öffnet einen Kasten, drückt vergeblich ein paar Schalter oder wechselt Sicherungen und geht wieder. Das wiederholt sich ein paarmal bis Poznan, ohne daß der Monteur sagen kann, ob der Schaden überhaupt zu beheben ist oder nicht, bis es dem ersten Reisenden reicht und er den Wagen wechselt, bis schließlich, zwei Stunden vor Warschau, nur noch ein paar Reisende in Decken gewickelt das Ende der Fahrt abwarten, bis auch sie aufgeben. Freilich passiert das nur bei jeder dritten oder vierten Fahrt.
Nummer 269 ist mein Lieblingswagen, ich buche ihn bei jeder meiner Reisen, weil er sich mit seinen braunen Polstern und den Klapptischen von den Waggons deutscher Bauart unterscheidet. Er kann sich an die neuen Verhältnisse nicht gewöhnen, das macht ihn mir sympathisch. Irgendwann wird man ihn deswegen endgültig abhängen und ein anderer wird Wagen 269 sein. Nicht, daß das jetzt ein Gleichnis ist und ich mich mit Wagen 269 vergleichen würde. Keineswegs. Ich bin kompatibel wie eine Diskette im Rich Text Format.
Als ich das erste Mal nach vierzehn Jahren wieder über die polnische Grenze fuhr, waren die Säume der Oder vereist. Die Landschaft hinter dem Fluß changierte zwischen grau und beige. In der Morgendämmerung huschten Ortschaften vorbei. Sie erinnerten im flüchtigen Vorbeifahren an die Landschaft vor der Oder, wie sie ausgesehen hatte ein Jahr nach meiner letzten Reise Richtung Osten, die Transparente verschwunden, die Häuser noch nicht renoviert und ein W-50-Fäkalientransport, der an einem Bahnübergang wartete, blieb mit seinem orangefarbenen Wagenaufsatz der einzige Farbtupfer weit und breit.
In diesem Frühjahr träumte der Bundesverkehrsminister von einer ICE-Verbindung Berlin-Warszawa-Moskwa. Alle zwei Stunden wird ein Hochgeschwindigkeitszug an den Bahnhöfen vorbeidonnern, ohne die Geschwindigkeit verringern zu müssen, denn gegen den Sog sind die Kleinstädter von Kutno und Kunowice, die in die neue Zeit nicht mitgenommen werden, durch eine Glaswand geschützt, die den Korridor der Globalisierung abtrennt. Sie sind nur noch Illustrationen am Wegesrand, zur Unterhaltung von ICE-Kunden, schließlich gibt es in jeder Modelleisenbahnanlage Figuren. „Guck mal, die vielen Menschen da auf dem Bahnhof? Wo sind wir eigentlich?“ – „Weiß nicht, auf jeden Fall gleich in Warschau.“ Und dann kommt sie auch schon, die Durchsage in Deutsch, Russisch und Polnisch: „Wir befinden uns in Anfahrt auf…“
Sie hatte Tad bei der Abfahrt auf dem Bahnhof Lichtenberg nicht erkannt. Sie waren soviele, die zum Arbeitseinsatz nach Warschau geschickt wurden – ein ganzer Sonderzug für die Studentenbrigade Warschau II. Es gab nur zwei Typen, die ihr sogleich ins Auge fielen. Sie nannte sie Gockel und Hinkel. Die beiden waren am Tag der Abreise direkt aus der Kneipe „Zum fröhlichen Tender“ im Souterrain des Bahnhofs gekommen und hatten sich, nachdem sie auf der Toilette das T-Shirt mit dem FDJ-Hemd getauscht hatten, im Handumdrehen zu Delegationsleiter und stellvertretendem Delegationsleiter gemausert. Dann hatten sie die Namen auf den Listen nach Aufruf abgehakt. Gockel hatte sie in einem strengen Ton gefragt, warum sie nicht, wie aufgefordert, im Blauhemd erschienen sei. Sie hatte nur mit den Schultern gezuckt. Sie war nicht freiwillig hier, ihre Seminarleiterin hatte in ihrer Beurteilung eine Bewährung im Internationalen Studentensommer empfohlen. Es war Gockel zuviel Aufwand, sie wegen der fehlenden Uniform wieder nach Hause zu schicken. Er war müde, er war betrunken, er wollte keinen Ärger. Er machte einen Minuspunkt hinter ihrem Namen.
Sie hatte keine Lust mehr mitzumachen, aber sie wußte zu gut, daß sie Teil des Spiels war, in dem Gockel und Hinkel die Transportlisten abhakten, wie es die Gockel und Hinkel vier Jahrzehnte vorher in anderem Auftrag gemacht hatten. Und sie würde schweigen und den Ärger in sich hineinfressen und nicht wissen, daß eines Tages das alles keine Rolle mehr spielen würde und Gockel und Hinkel als Staatsanwälte des anderen Staates manchmal in ihren Chillout-Zonen beim Whisky auf alte Zeiten zurückkamen, als sie ungeheuer gesoffen hatten, anders wäre das auch nicht auszuhalten gewesen bei den Polen. „Die waren wir 89 glücklich losgeworden“, sagt Hinkel. „und jetzt kriegen wir sie wieder. Prost Mahlzeit.“ Damals hatte Hinkel, mit der Heckenschere in der Hand die Luft schneidend, gesagt: „Wenn es für’n Staatsanwalt nicht reicht, mache ich eben in Rollrasen.“
Es war kein Zufall, daß ich mich gerade jetzt an Tad erinnerte. Ich sah ihn in der Marszalkowska an der Treppe der McDonald’s-Filiale neben dem Kaufhaus, über die man damals in den Lesesaal gelangte, in dem zwei Tage alte westdeutsche Zeitungen auslagen, die sie begierig Zeile für Zeile lasen, ich sah ihn beim Betreten des Kulturpalastes, wo im ersten Stock links nun ein Goethe-Institut existierte, er fiel mir auf, wenn ich durch den Stadtteil Praga lief, der sich bis auf ein paar Kleinigkeiten wie den Werbesignets der kapitalistischen Welt in den letzten Jahren nicht verändert zu haben schien.
Nur an der Kreuzung mit dem Denkmal der schlafenden Soldaten der Roten Armee machte sich ein Carrefour-Supermarkt breit, der den Vorstadtbahnhof und das Gelände der polnischen Staatsbahn unter seiner Masse erdrückt zu haben schien. Mein erster Carrefour begegnete mir 1991 in Saint Denis, ein zur Trabantenstadt verkommenes Städtchen in der Nähe von Paris. Ich hatte noch nie vorher so einen großen Supermarkt gesehen. Die Lehrlinge, die als Boten zwischen Kasse und Regalen eingesetzt waren, um beschädigte Waren auszutauschen oder fehlende Preise zu recherchieren, fuhren mit Rollschuhen durch die Gänge. Afrikanische Familien, die Frauen in traditioneller Kleidung und im Oktober noch mit Sandalen an den nackten Füßen, schoben gigantische Einkaufswagen vor sich her, deren Inhalt von stoischen Verkäuferinnen Stück für Stück über das Band geschoben wurden. In Pragas Carrefour fehlen die Afrikanerinnen und die Rollschuhläufer, aber die Regale sind exakt nach demselben System angeordnet, so daß es egal ist, ob man sich in Warschau oder Paris befindet. Die Frischwaren sind immer im rechten hinteren Viertel.
Damals war es untersagt, nach Feierabend in Praga herumzulaufen, und vielleicht deswegen war sie jeden Abend dort. Sie liebte es, durch die Reihen des Rozyckiego-Basars zu gehen, in dem es alles gab, solange die Polizei nicht in der Nähe war: lebendige Gänse, die vor ihren Augen geschlachtet wurden, Kleiderstoffe aus Indien, Süßigkeiten aus Westeuropa, Henna oder Schlafmohn aus Afghanistan. In der letzten Reihe an der Brandmauer des Nachbarhauses wurden Frauen verkauft. Die meisten waren stark geschminkt, als ließe sich Alter vertuschen. Sie trugen Strapse und spreizten die Beine, wenn ein Freier sich in ihre Nähe wagte und zischten, wenn eine Frau sich verirrte, die jünger war als sie.
Eines Abends, auf dem Weg ins Heim, traf sie Tad wieder. Sie waren nach dem Brand der Möbelfabrik auf Vorortbahnhöfe versetzt worden, jeder auf einen anderen. Sie kehrten um und liefen ziellos durch die Warschauer Innenstadt und über die Ränder hinaus. Er erzählte von seinen Besuchen bei Wanda, die 1944 im letzten Haus am Altmarkt, das noch nicht von den Deutschen zerstört war, ihr Abitur gemacht hatte und die viele Geheimnisse kannte, die sie magisch anzogen. Die von den Russen getöteten polnischen Offiziere in Katyn, das Ausbleiben der Roten Armee nach dem Warschauer Aufstand, die polnischen Aufstände und Streiks der Nachkriegszeit, von denen sie, bis auf den letzten, nie etwas gehört hatte. „Ich glaube, man muß noch gründlicher lesen, um das alles zu verstehen“, sagte Tad. „Vielleicht sollten wir langsam mal lernen, wie man Bomben bastelt“, sagte sie und Tad schaute sie verständnislos an.
Manchmal waren sie so ins Gespräch vertieft, daß sie nicht mehr wußten, wo sie sich befanden und in die erstbeste Straßenbahn stiegen. Abends um zehn wurde das Studentenwohnheim abgeschlossen. Wer zu spät kam, wurde in ein großes Buch geschrieben. Die Pförtnerin vermied es bald, ihre zu notieren und winkte sie mit einer lässigen Bewegung durch.
Ich kann die Uhren nicht mehr vergleichen. Eine ist stehengeblieben. In Warschau herrscht eine andere Zeit. So etwas zwischen gestern und übermorgen. In dem Wohnheim leben immer noch Studenten. Die Pförtnerbude ist verwaist.
„Wir dürfen die schöne Oberfläche streifen“, schrieb sie in ihr Notizbuch. „Für den Rest verbindet man uns die Augen: durch sinnlose Arbeit, Verbot von Stadtvierteln. Aber ich sehe: die überstrichenen Solidarnosc-Parolen in der Nähe der Parteizentrale, die katholische Prozession Tausender Gläubiger, die mageren Hunde, das Grab von Popielusko, dem Märtyrer.“ Einmal gerieten sie in einen Gottesdienst, der sich drei Stunden hinzog. Die Leute hielten sich bei den Händen und sangen. Tad stellte sich am Altar an und ließ sich eine Hostie auf die Zunge legen. Ihr blieben die Rituale fremd, aber Tad hatte sich in eine Italienerin verliebt und hoffte, ihr so näher zu sein.
An den Straßenecken lungern trotz der niedrigen Temperaturen Männer herum. Sie vermeiden jede Auffälligkeit, ihre Winterkleidung ist praktisch, sie tragen Plastetüten in der Hand, als seien sie dabei, einzukaufen, aber sie bewegen sich nicht vom Fleck und in ihren Tüten sind nichts als ihre vielmals an den Fingern geflickten Handschuhe. Wahrscheinlich haben sie ihren Frauen verschwiegen, daß sie arbeitslos sind. Gegen fünf, wenn die Rushhour beginnt und die Ikarusbusse und Tatrabahnen sich ihren Weg aus der Innenstadt durch die Stoßstange an Stoßstange stehenden Autos bahnen, treten sie einer nach dem anderen ab.
In der Unterführung neben dem Kulturpalast spielt am Morgen ein kleines Orchester. Von weitem sehen sie aus wie distinguierte ältere Männer, die einen Clown in die Mitte genommen haben. Der Clown ist eine Frau mit einem zu bunten Kostüm, die ein Tambourin schlägt. Der Klarinettist trägt einen zu kleinen Hut, der Sänger ein verschossenes gelbes Jackett, das zu kalt für diese zugige Unterführung ist, und der lila Anorak des Schlagzeugers paßt nicht zum Rest des Mannes. Eben wird der Gitarrist von einem blutjungen Uniformierten aus dem Orchester gezogen. Er soll die Genehmigung zum Musizieren zeigen. Die Zuhörer murren. Sie möchten die Musik hören. Immer mehr Uniformierte kommen. Sie tragen Schlagstöcke in der Hand. Der Mann mit dem zu kleinen Hut spielt eine Klezmermelodie auf seiner Klarinette, währenddessen die anderen ihre Instrumente einpacken.
Bei einem ihrer Spaziergänge standen sie plötzlich vor dem Ghettodenkmal. Das zwischen den Ritzen der Pflastersteine des Platzes wuchernde Unkraut reichte bis zu den Knöcheln. Es schien, als wäre hier seit dem Kniefall von Willy Brandt niemand mehr gewesen. Als machte die Stadt einen Bogen um dieses Viertel. Sie saßen in der Hitze und schwiegen, bis sie sagte: „Hier hätten wir Unkraut jäten sollten. Das hätte wenigstens einen Sinn gehabt.“ – „Damit am Ende ein Bild von Gockel und Hinkel im FDJ-Hemd und mit Hacke und Spaten vor dem Denkmal in der Zeitung stünde, Bildunterschrift: ‚Zwei, die aus der Geschichte gelernt haben.’ Dann lieber sinnlose Arbeit.“
Ich könnte Tad viel erzählen, wenn er mir noch zuhören würde. Die Nachkriegsbauten auf dem ehemaligen Ghettoareal haben in regelmäßigen Abständen feine Risse in der Fassade, vom Dach bis zum Keller. Da hat die Geschichte an den Fundamenten gerüttelt, falls Tad der Satz nicht zu groß vorkäme. Tad war, als ich ihn noch kannte, für Metaphern nicht zu haben. Eine Warschauerin führte mich in eines der Häuser, die auf Hügeln stehen, Reste der gigantischen Trümmerberge, die die Deutschen bei ihrem Rückzug hinterlassen hatten. Sie waren im Ghetto drei Etagen hoch, und es hätte vieler Steinmühlen und unendlich vieler Arbeitskräfte bedurft, um diese Trümmer abzutragen. Weil dringend Wohnungen gebraucht wurden, hat man die Fundamente in den Trümmerbergen verankert, manchmal drei Keller tief. Und aus diesen Kellern kommt ein Geruch, der einen nach unten zieht und man ahnt, daß dieses Unten ein Alptraum ist. Hier atmet die Geschichte aus, falls mir dieser Satz erlaubt ist.
Im Zehn-Minuten-Abstand halten die Touristenbusse am Ghettodenkmal. Der Weg von hier bis zum Umschlagplatz ist mit leeren Plasteflaschen gesäumt. Ab und an wird ein dünne rosa oder weiße Tüte von einer Windböe wie ein Drachen in die Luft gehoben und verharrt eine Weile, bis sie sanft nach unten gleitet oder in einer Baumkrone hängenbleibt.
Der Kapitalismus in Warschau ist ein zu hart belichtetes Foto, das das dunkle dunkler, das helle heller macht. Der Mann mit der schweren Goldkette parkt seinen Mercedes mitten auf dem Fußweg und läuft quer über die Straße zu einem Antiquitätengeschäft, das sich diskret im Souterrain versteckt. Die Leute auf dem Basar im alten Stadion von Praga, der den schönen Namen Europa-Jarmarkt trägt und die Rückseite des Kontinents repräsentiert, tragen prall gefüllte Koffer aus grobem Kunststoff in rosa-blau mit sich herum, in Berlin Russenkoffer genannt. Manchmal sind sie auf alte Kofferkulis geschnallt. Ihre Ware bieten die Verkäufer auf weißen Plastestühlen sitzend an, meist sind es schwarzkopierte Hollywoodfilme oder CDs internationaler Sänger, die die ersten zwanzig Plätze der Charts besetzt halten. Russenkoffer und Plastestühle sind häßlich und praktisch zugleich. Mit den Russenkoffern kann man bequemer vor einem Aggressor fliehen als mit Hartschalenkoffern. Die weißen Plastestühle lassen sich zu Hunderten übereinanderstapeln. Sie spielen in jedem Konflikt mit. Man kann sich in einem Internetcafe auf sie setzen und zwischen den Kriegen herumsurfen. Auch auf den Bildschirmen stehen sie an den Ecken herum, mal umgekippt, mal aufrecht stehend, ab und an fehlt ihnen ein Bein oder sie sind ineinander verknäult. In einem Foto im STERN sind drei vor US-Soldaten fliehende Iraker zu erkennen. Im Vordergrund die Kulisse eines Straßencafes mit weißen Plastestühlen mit orientalischen Mustern im Rückenbereich. Ein Stuhl liegt in der gleichen Haltung da wie der Tote neben ihm, der vielleicht eben noch darauf saß.
Im Internet suche ich nach den günstigsten deutschen Angeboten und finde unter www.daenischesbettenlager.de „Gartenstuhl Max. Stapelbare und besonders pflegeleichte Gartenstühle mit niedriger Rückenlehne in weiß. Hergestellt aus wetterbeständigem und pflegeleichtem Kunststoff. Größe : ca. 79,5 x 56 x 40 cm. TÜV-geprüft! 1 Jahr Garantie! Versandart: Versand per Spedition. 3,95 Euro.“ Ob Kriegseinwirkungen in den Garantieleistungen abgedeckt sind? In Rot ist „Max“ etwas teurer und heißt dann „Paris“, in Blau aber „Cuba“, als Liegestuhl „Zürich“, als Gartenstuhl „Marokko“. So kommt die Welt im Garten zusammen und die Stühle um die Welt. Eines Morgens hängt an der Tür meiner Wohnung in der Hozastraße die Werbebotschaft eines Warschauer Möbelausstatters. Der Stapelstuhl „Max“ ist für 6,95 Zloty zu haben. Die geblümte Stoffauflage „Pisa“ ist wohl eher etwas für die Zeit zwischen den Kriegen. Andererseits, in einer Welt voller Designerwaren ließe es sich wahrscheinlich nur schwer aushalten. Eignet sich dieses formschöne WMF-Hackebeilchen aus Edelstahl nicht vorzüglich zum Zerteilen eines menschlichen Körpers? Würde es nicht wunderschön in der Sonne blitzen bei der Live-Übertragung? Oder das Küchenmesser (Couteau de chef) mit dem Edelholzgriff aus dem Manufactum-Katalog im Bauch eines Mannes im Armani-Anzug? Wäre das nicht eine anmutige Kombination?
Drei Jahre später, im Sommer 1989 waren sie noch einmal nach Warschau gekommen. Es war schwierig, ein Visum für irgendein Ausland zu erhalten, die Leute fuhren weg und kamen nicht wieder zurück, einige hatten auch Zuflucht in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau gesucht.
Sie saßen wieder im Lescafé tranken billigen schwarzen Tee und sogen die Zeitungen ein, die FAZ und den SPIEGEL, die Süddeutsche und die taz und später schrieb sie in ihr Notizbuch, daß sich die Sprache der FAZ auch nicht eigne, um das zu sagen, was gesagt werden müsse, irgendwann. Sie hatte ihr Kind, das sie inzwischen bekommen hatte, zu Hause gelassen, ihre vollen Brüste erinnerten sie den ganzen Tag daran. Wanda gab ihnen ein Bett und ein Abendessen mit Nachtisch. „Was machst du mit der guten Muttermilch“, fragte sie, als sie sie dabei beobachtete, wie sie das Abgepumpte in den Spülstein goß. „Gib sie mir, ich kann sie verwenden.“ Am Abend gab es Pudding als Dessert. Die Löffel kratzten schon auf dem Boden der Schälchen, als Wanda verriet, daß der Pudding aus der Muttermilch gemacht war. Tad verließ das Zimmer und wenig später hörten sie das Geräusch der Spülung im Badezimmer.
Damals glaubte sie noch an eine Alternative zum Kapitalismus, die allerdings ein anderes Antlitz haben sollte als das, vor dem sie längst innerlich geflohen waren. Tad war nicht zum Forschungsstudium zugelassen, weil er sich weigerte, die Beziehung zu seiner italienischen Freundin aufzugeben. Stattdessen bearbeitete er das Wort Akelei für die Neuausgabe des Grimmschen Wörterbuches und fuhr abends ans andere Ende der Stadt, wenn er von einer Telefonzelle wußte, die ohne Geld funktionierte. Er glaubte an gar nichts mehr und wünschte sich ein ruhiges Haus in den Wäldern Nordamerikas. Drei Monate später hatte sich jede Art von Alternative zum Kapitalismus erledigt und das Leben beschleunigte sich, als hätten die, die jetzt kamen, schnellere Uhren mitgebracht. Sie wurden weggerissen in eine andere Gegenwart.
Die Stufen der Freitreppe des Kulturpalastes, auf der sie vor siebzehn Jahren saßen, sind inzwischen von Moos bewachsen, die Säulen an den Kapitellen von Salpeter zerfressen. Touristen fotografieren die Arbeitergiganten, die den Bau säumen oder posieren in ihrem Schoß. Der Kommunismus ist tot und hat seinen Schrecken verloren. Ein mattes Gespenst, die Gegner auf der Suche nach neuen Feinden.
Die Professoren an der Berliner Uni konnten Tad nicht verzeihen, daß er zuviel wußte über ihre Kompromisse und Bauernopfer. Tad ging nach Italien und wurde Deutschlehrer. Seine Liebe war nicht mehr unendlich fern, sie war real. Er stopfte seine Pfeife mit besserem Tabak und setzte sich zum Rauchen unter eine Pergola mit Wein. Irgendwann packte er auch da seine Koffer und verschwand ohne ein Wort.
Wenn ich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß sich für mich nicht viel geändert hat. Damals wie heute stehe ich am Rande der Mitte und beobachtete das Geschehen, ohne wirklich einzugreifen, ich denke darüber nach, was anders sein könnte, ohne die Initiative zu ergreifen. Ich mache überschaubare Kompromisse.
ICH WILL DIESE GESCHICHTE NICHT MIT MIR MITSCHLEPPEN. Dabei ist sie doch ein ganz leichtes Gepäck.
Mitte April, als der Schnee zurückkam, zogen sich die Tulpenverkäufer wieder in die Häuser zurück und es verschwand auch die Frau mit ihrem kleinen Sohn im Rollstuhl, die jeden Tag zehn Stunden unbeweglich und das Gesicht versteinert wie eine Statue, eine Hand am Griff des Rollstuhles, die andere um ein Schild gekrampft, das ihrer beider finanzielle Notlage schilderte, unter den Arkaden stand. In die Wände sind überlebensgroße Werktätige gemeißelt. Gleich neben der bettelnden Frau mit ihrem Sohn ist es eine riesige Hortnerin mit Brüsten, groß wie Wassermelonen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie das steinerne Kind unter sich beschützt oder bedroht.
An jenem Morgen, an einem Maschendrahtzaun der polnischen Staatsbahn, an dem sie sich beide beim Reden festhielten, hatte ein Gespräch begonnen, das vierzehn Jahre später so abrupt endete, wie es begonnen hatte und ohne daß es einen triftigen Grund gab, der in ihrer beider Verhältnis lag. Tad verschwand in die lettischen Wälder und schwieg. In diesem Frühjahr, als der Winter nicht enden wollte in Warschau und der Ostwind auf das einzige Fenster der winzigen Wohnung drückte, war dieses Schweigen zu hören.
Zuerst in: Harm Lux (Hg.), „…lautloses irren, ways of worldmaking too…“, Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Postbahnhof Berlin
außerdem in: Die Aktion. Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst, Heft 212, Erste Lieferung 2006