Prenzlauer Berg steht mittlerweile in jedem Berlinführer an exponierter Stelle. Angepriesen wird das geschlossenste Gründerzeitviertel Europas, viele Kneipen und eine hippe Szene. Vorbei sind die Zeiten, als sich die Touristen nicht trauten, bei den Besichtigungen Ostberlins, zu deren Programm Ende der achtziger Jahre auch die renovierte Husemannstraße gehörte, aus dem Bus zu steigen. Inzwischen sind sie am Kollwitzplatz in den unbezahlbaren Kneipen unter ihresgleichen, und über ihnen haben die alten Leute wie eh und je ihre Kissen ins Fenster gelegt und sehen die Geschichte an ihnen vorüberziehen. Aber es werden immer weniger. Das Statistische Landesamt stellte im Herbst 1996 seine turnusmäßige Bevölkerungsstatistik vor. Im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1991 und dem 30. Juni 1996 seien von den 145.000 Einwohnern im Bezirk 64.955 Personen weggezogen oder verstorben. Hinzugezogen sind 68.820. Das bedeutet, daß sich die Bevölkerung des Bezirks in einem Zeitraum von nur fünf Jahren zur Hälfte ausgetauscht hat. Dieser rasante Bevölkerungsumbruch, der sonst nur aus Kriegszeiten bekannt ist, ließ Statistiker und Stadtsoziologen aufhorchen. Die deutlichsten Rückgänge gab es unter den Kindern und unter den Älteren. Manche der Alten hatten seit ihrer Geburt in der gleichen Wohnung gewohnt, jetzt können viele die Miete nicht mehr bezahlen, ihr Stolz verbietet ihnen, auf das Sozialamt zu gehen, und sie entschließen sich schweren Herzens zum Wegzug. Für sie ist der neue Vermieter das letzte Glied in der Reihe von Zumutungen, die ihnen das 20. Jahrhundert bescherte.
Ein Transitbezirk war Prenzlauer Berg schon lange. In den siebziger und achtziger Jahren waren es vor allem Familien, die ihre viel zu kleinen Wohnungen ohne Komfort gern gegen eine Neubauwohnung am Stadtrand vertauschten. Stattdessen kamen junge Leute, die der Enge der Provinz entflohen, und zunehmend Prenzlauer Berg als geeignetes Sprungbrett in den Westen ansahen. Es war üblich, wenn man nach Berlin kam, eine Wohnung zu besetzen. Man schaute sich auf den Hinterhöfen um, wo die Fenster blind waren oder fragte irgend jemanden, ob etwas frei sei im Haus, besorgte sich einen Dietrich und schloß auf. Man konnte dabei unliebsame Überraschungen erleben, wie ein Bekannter, der plötzlich vor dem Bett einer alten Frau stand, die ihn fragte, warum er ungebeten hereingekommen sei. Wenn man dann aber eine Wohnung gefunden hatte, konnte es ganz leicht sein. Man fragte nach der Kontonummer der Wohnungsverwaltung, zahlte drei Monate lang Miete, die auf dem Stand von 1938 eingefroren war und sich für eine Einraumwohnung mit Außentoilette um 30 Mark der DDR bewegte, zog sich ein schönes Kleid an und ging zur Polizei, um sich anzumelden. Dann wartete man. Und meistens ließ sich so ein Loch legalisieren, wer wäre sonst dort noch eingezogen? Wenn nicht, brach man die nächste Wohnung auf oder übernahm eine von den zahlreichen Ausreisenden. Weil nie Geld da war für Reparaturen, hatten die Wohnungen oftmals den Standard der Bauzeit. Da war noch der alte Ausguß in der Küche, in den Generationen von Männern hineingepinkelt hatten, weil ihnen der Weg eine Treppe tiefer in der Nacht oder im Winter zu beschwerlich gewesen war oder das Klo gerade besetzt vom Nachbarn. Da war die fünfte Schicht Tapete, die aus Inflationsgeld bestand oder der Haken in der Mitte der Stuckrosette, an der das Gaslicht gehangen hatte. Einmal kam bei einer Renovierung eine dunkelblau gestrichene Decke mit goldenen Jugendstilblüten unter der dicken Schicht Leimfarbe zum Vorschein, und erst spät fiel mir auf, daß die unzähligen kleinen Löcher im Fensterrahmen Spuren der Nägel waren, mit denen man während und unmittelbar nach dem Krieg die Pappe statt des fehlenden Glases vor die Fenster genagelt hatte.
Manchmal hatten die Bomben in einer schnurgeraden Häuserreihe ein oder zwei Lücken gerissen, die das Licht hereinließen. So ließ sich auch eine Wohnung im ersten Stock Nordseite ertragen. Woher sollte ich wissen, daß Kohlenhandel Schiele in der Schliemannstraße, zwei Grundstücke breit und mit lauter Typen besetzt, die einem Fellinifilm entsprungen schienen, seine Kohlenberge, bevor er sie in die Keller brachte, auf die Keller des Grundstückes 7 und 8 schüttete, weil die noch unter der Erde lagen? Ich hätte die alten Frauen im Haus fragen können, und sie hätten mir sicher in allen Einzelheiten von dem Bombenangriff erzählt, und daß das Haus Nr. 8 nach dem Krieg noch stand, dann aber 1949 wegen Unfallgefahr abgerissen werden mußte. Doch ich ging ihnen lieber aus dem Wege, denn das waren die, die das Hausbuch führten und jeden unangemeldeten Westbesuch an den Schuhen identifizierten, die neugierig waren, sich bestens mit dem Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei verstanden und Briefe schrieben, wie: “Liebes Fräulein! Wie Sie merken, ist der Sommer vorbei und jetzt die furchtbare Kälte, daher möchte ich sie bitten, die obereren Fenster zu zu machen, ich bin so blasenkrank das mein Arzt mir nicht alles verschreiben kann. Andernfalls ich mich auf das Wohnungs-Amt bemühe. Dieses nur zur Kenntnis. Es geben mir hier im Haus alle Zeugen ab.“
Sie waren die im Krieg übriggebliebenen, die die nicht rechtzeitig in den Wedding gewechselt waren, weil sie gerade ein neues Schlafzimmer gekauft hatten, was sie auf der Flucht nicht mitnehmen konnten, die die Schwiegermutter nicht allein lassen wollten oder sich hier wohlfühlten, die die lieber ewig das Außenklo benutzten anstatt am Rand der Stadt in eine „Vollkomfortwohnung“ zu ziehen. Sie waren mit dem Prenzlauer Berg oft seit einem Jahrhundert verwoben, weil die Mutter, die aus Schlesien gekommen war, den Mann aus Ostpreußen geheiratet und eine Souterrainwohnung bezogen hatte, später zogen sie in den vierten Stock des zweiten Hinterhauses. Und keine dieser Generationen benutzte das betulich-scheinliebevolle Wort Prenzlberg, das machten nur die Fremden und erst seit den neunziger Jahren.
Als ich 1983 in den Prenzlauer Berg zog, hingen in den Erdgeschoßzonen der Häuser die Rolläden schief. Die Räume wurden als Abstellflächen genutzt, nur an den Ecken oder auf den Magistralen waren Läden darin. Es war ein vertrautes Bild, und man fragte nicht weiter. Über den Läden die stummen Zeugen. Schriften wie SARGMAGAZIN, MOLKEREI MARX, BÄCKEREI. Es wurde damals Mode, sie zu fotografieren, nicht aber ihre Geschichte zu recherchieren.
Eines Tages, ich war in eine neue Wohnung, Hinterhaus vierter Stock, gezogen, lag ich im Bett und dachte darüber nach, wer schon alles in meiner Wohnung gelebt hatte, mit dem gleichen Blick an die Decke. Es war eine Zwei-Raumwohnung, und ganz sicher hatte sie um die Jahrhunderwende einer mehrköpfigen Familie gehört. Ich fing an, in alten Adreßbüchern zu stöbern. Unter meiner Adresse fand ich in der Ausgabe von 1922 den Namen des alten Ehepaars aus dem 2. Stock. Ich fragte den Mann, ob da eine Namensgleichheit vorläge, aber er sagte mir, daß seine Familie immer in derselben Wohnung gewohnt hatte, erst seine Eltern mit ihm und seinen Geschwistern, später dann er mit seiner Familie. Die Männer waren alle in dieselbe Kneipe gegangen, Schweppes, seit 1908, die Zeit ist an ihr vorübergegangen, scheinbar ohne jemals Spuren zu hinterlassen, die gleiche Bestuhlung, der gleiche Tresen, seit 90 Jahren, nur die Adresse wechselte, nicht der Ort, bis 1950 war es die Danziger Str. 70, dann bis 1996 die Dimitroffstraße 63 und jetzt die Danziger Straße 63, und die Zeit verging über den vielen Bieren, die immer mal wieder anders schmeckten und teurer wurden. Der Krieg wurde von Bier zu Bier abenteuerlicher und Soldaten zu Helden. Es ist eine der wenigen Arbeiterkneipen, die noch existiert. Nur Arbeiter gibt es hier nicht mehr.
Anfang der achtziger Jahre gelangte der Prenzlauer Berg in die Feuilletonseiten der westdeutschen Zeitungen, als eine recht inhomogene Gruppe von Künstlern mit ständig wechselnden Protagonisten – der Weggang war immer derselbe, Richtung Westen – sich fand, um Texte zu schreiben und Bilder zu malen, die in den gängigen Kanon des Sozialistischen Realismus nicht so recht passen wollten, und sie in eigenen Zeitschriften veröffentlichte. Die Szene, Prenzlauer-Berg-Untergrund genannt, wurde vom Westen gehätschelt und überbewertet, um Anfang der neunziger Jahre in Bausch und Bogen in den Abgrund der Geschichte feuilletonisiert zu werden, weil einige der Protagonisten sich als Zuträger der Staatssicherheit erwiesen hatten. „Der Prenzlauer Berg ist tot“ war der neue Kanon. Dabei machten die Künstler nicht einmal 1% der Bevölkerung aus. Von dem Rest sprach niemand. Die heruntergekommenen Gründerzeithäuser wurden begehrte Kaufobjekte. Je weniger Mieter sich im Haus befanden, desto teurer konnte das Haus weiterveräußert werden, da halfen die politischen Versuche, mit der Festsetzung von Mietobergrenzen der Spekulation vorzubeugen, wenig. Der Bezirk wurde zum größten Sanierungsgebiet Europas erklärt.
Die fast fünfzig Jahre dauernde Nachkriegszeit hatte im Prenzlauer Berg, der von den immer wieder von der Partei-und Staatsführung geplanten Flächenabrissen aus Mangel an Geld verschont blieb, einen hohen Bestand nahezu unberührter Zeugnisse des Krieges bewahrt: Luftschutzzeichen, Einschüsse diverser Waffen, Trümmergrundstücke, an der einen oder anderen Stelle Ruinen, Notdächer aus Pappe und Häuser, denen die oberen Etagen abhanden gekommen waren. „Immer, wenn man nach dem Krieg im Nordosten Berlins um die Ecke ging, fehlte sie“, schrieb der Filmemacher Jörg Foth in einem Essay.
Was vorher durch die Verlangsamung der Zeit so schien, als würde es sich nie verändern, verschwand nach dem Fall der Mauer plötzlich in rasender Schnelligkeit, ohne Spuren zu hinterlassen. In dieser Zeit des Übergangs, 1992, bekam ich eine auf zwei Jahre befristete Stelle bei der Neuen Gesellschaft für Literatur. Ich hatte die Aufgabe, Lesungen in Senioreneinrichtungen zu organisieren. In einem Altenheim sagten mir die Bewohner, Lesungen interessieren sie nicht, aber ich sollte doch mal kommen und mit ihnen Kaffee trinken, da würden sie mir Geschichten erzählen, einer könne sich sogar noch an den Kapp-Putsch erinnern. Eine neunzigjährige Frau turnte mir die Übungen vor, die sie im Fichte-Sportverein immer gemacht hatten, und eine andere beschrieb mir ihr zerstörtes Haus in der Chroriner Straße in allen Einzelheiten. Es gab Diskussionen in der Literaturgesellschaft, ob mündlich Erzähltes Literatur sei. Nachdem ein Versuch, in einer Seniorenfreizeitstätte eine Lesung zu organisieren gründlich mißlungen war, die Alten hatten mittendrin angefangen „So ein wunderschöner Tag wie heute“ zu singen, organisierte ich zusammen mit dem Kulturladen in der Kollwitzstraße einmal monatlich ein Erzählcafé. Angelockt durch den Titel der ersten Veranstaltung „Auf der Schönhauser Allee lagen die toten Pferde“, kamen dreißig alte Leute, und es begann eine Diskussion über den Krieg, die in unterschiedlichsten Formen drei Jahre währte. Viele, vor allem Frauen hatten ihre persönliche Geschichte noch nie erzählt, ihre Kinder wollten sie nicht hören. Auch bei den Veranstaltungen fehlte diese Generation. Es kamen vor allem sehr junge Leute als Zuhörer. Zusammen mit dem Gestalter Grischa Meyer konzipierte ich das vom Prenzlauer Berg Museum unterstützte „work in progress“-Projekt Kriegspfad Berlin 1945. Moskauer Zeit in Prenzlauer Berg. Zum Kriegsgeschehen in Prenzlauer Berg gab es weder Forschungen noch offizielle Dokumente. Verläßlichste Quelle waren 1946 von Kindern geschriebene Aufsätze über die Kriegs- und Nachkriegszeit in Prenzlauer Berg (vgl. „ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab. Berliner Schulaufsätze aus dem Jahr 1945. Herausgegeben vom Prenzlauer Berg Museum des Kulturamtes Berlin Prenzlauer Berg mit Unterstützung des Landesarchivs Berlin. Ausgewählt und eingeleitet von Annett Gröschner. KONTEXTverlag Berlin 1996) und die Erinnerungen der alten Leute. Im Rahmen des Projektes legten Schüler einer Gesamtschule den Keller eines zerstörten Hauses frei, zusammen mit dem Sozialamt schrieben wir ein Preisausschreiben aus, bei dem Senioren aufgefordert wurden, ihre Kriegserlebnisse aufzuschreiben, konzipierten eine Ausstellung in der ehemaligen sowjetischen Kommandantur, stellten an ausgewählten Orten im Bezirk Baustellentafeln auf, die die Kriegsgeschichte des Ortes erzählten und organisierten 1995, zum 50. Jahrestag der Befreiung eine Ausstellung sowjetischer Kriegsfotografen. Während und auch lange nach diesem Projekt habe ich mir die Geschichten der alten Leute erzählen lassen. Ich war und bin fasziniert von der Kraft ihrer Erzählungen. Dieses Buch versammelt eine Auswahl dieser Interviews, die bearbeitet, umstrukturiert und verfremdet wurden. Meine Bemühung bestand darin, bei aller Literarisierung den Ton der Erzählung unverfälscht zu lassen.
Die Frauen und Männer waren am Ende des Krieges zwischen 14 und 30 Jahre alt. Sie kamen aus armen und reicheren Elternhäusern, hatten unterschiedliche politische Haltungen und verschiedene Vorstellungen vom Leben. Das einzige, was sie einte, war die Erleichterung, daß der Krieg vorbei war. Nachdem die Hoffnung, noch ein Buch über die Ausstellung machen zu können, sich 1995 zerschlug, habe ich einige der Interviews unter der Rubrik „Menschen an unserer Rückseite“ in der in Prenzlauer Berg erscheinenden Zeitschrift SKLAVEN veröffentlicht. Die Überschrift war mit Bedacht gewählt. Zum einen ist sie eine ironische Verfremdung des Titels „Menschen an unserer Seite“, ein Roman von Eduard Claudius, der in den DDR-Schulen Pflichtlektüre war – er beschreibt in verklärender Weise das Verhältnis zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz beim Aufbau des Sozialismus – zum anderen ist er durchaus wörtlich gemeint. Wir, die wir irgendwann in den Prenzlauer Berg gezogen waren, hatten uns für die Geschichte derer, die den Krieg und die Nachkriegszeit hier erlebt hatten, nie interessiert oder erst, als es schon fast zu spät war.
Noch nach dem Reichstagsbrand und trotz massiver Einschüchterungsversuche wählten bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 in Prenzlauer Berg 29% die KPD, 25%die SPD und 30% die NSDAP, auch bei den Neuwahlen der Stadt- und Bezirksverordneten eine Woche später gelang es der NSDAP nicht, im Bezirk die absolute Mehrheit zu gewinnen, doch waren die Ressentiments zwischen den beiden linken Arbeiterparteien größer als der Wille zur absoluten Mehrheit. Den Nazis gelang es nach vielen blutigen Auseinandersetzungen, auch in Prenzlauer Berg Fuß zu fassen. Von Februar bis Juni 1933 unterhielt die SA auf dem Gelände am Wasserturm ein „wildes“ Konzentrationslager, in der Maschinenhalle wurden Hunderte Funktionäre der Arbeiterbewegung grausam gequält, im November 1934 fand man auf dem Gelände die Leichen von 28 Folteopfern.
Bis vor kurzem gab es noch die Spuren des Wahlkampfes von 1933 als verwitterte Zeichen an den Häusern – Wählt Liste 3, KPD in der Gethsemanestraße und vierzig Jahre unter einem anderen Schild verdeckt – das nach der Wende abgeschraubt wurde, weil es die Institution nicht mehr gab – die Parole „Deutschland wählt Hitler“ nebst zwei Hakenkreuzen an einem Haus am Ende der Hufelandstraße, mit zerschossener Fassade, die von den Kämpfen um die beiden Flakbunker erzählte. Inzwischen sind die Häuser repariert und die Spuren wieder unter dem Putz verschwunden, der wohl länger halten wird als der in der DDR gebräuchliche.
Das Geschehen des Krieges ist untrennbar von der Judenverfolgung im Bezirk, ein Zusammenhang, der auch in den Erzählungen immer wieder eine Rolle spielt, denn alle hatten jüdische Nachbarn oder Arbeitskollegen, die nicht in der Nacht, sondern unter den Augen der Mitbewohner abgeholt wurden. Trude aus der Christburger hat ihre Nachbarin sogar zum LKW begleitet. 1939 lebten in Prenzlauer Berg noch 9.577 Menschen jüdischen Glaubens (1925 20 419), bei der Zählung Ende 1945 waren es knapp über 100.
Für Emma aus der Prenzlauer Allee sind die beiden Ereignisse in ihrer Erinnerung untrennbar miteinander verwoben. Zwischen Briefkasten und Toreingang unseres Hauses erzählte sie mir die Geschichte ihrer Bäckerei in der Schönhauser Allee 160 neben der Segenskirche. In der Nr. 162 befand sich das Auerbachsche Waisenhaus, ein jüdisches Kinderheim. Die Kinder kamen nach der Schule in die Bäckerei und holten sich die Kuchenränder. An einem Tag, es muß 1942 gewesen sein, blieben sie aus. Ihr Nachbar, ein Lebensmittelhändler fragte sie erstaunt, ob sie denn geschlafen habe in den frühen Morgenstunden, als die Kinder abgeholt wurden. Sie hatte es nicht bemerkt. An diesem Tag, sagt sie, hatte sie ihren ersten Herzanfall. Mit dem Evakuierungsbefehl des Reichsverteidigungskommissars von Berlin, Joseph Goebbels, verließ sie im Sommer 1943 mit ihren kleinen Kindern Berlin, ihr Mann wurde eingezogen, die Bäckerei geschlossen. Ihre Wertsachen versteckte sie im Backofen. Am 23. November 1943 wurde ihr Haus genau wie das Auerbachsche Waisenhaus bis auf die Grundmauern zerstört. Als sie im Sommer 1945 nach Berlin zurückkam, waren die Wertsachen verschwunden, nur ihre Bratpfanne fand sie im Hofgarten. Das war, nach ihrer Interpretation als gläubige Katholikin, die Strafe Gottes. Auf Band erzählen wollte sie mir ihre Geschichte nicht, und deshalb fehlt sie in diesem Buch. Von Emma habe ich gelernt, wie die alten Frauen durch die Straße gehen. Sie sehen Geschäfte, die keiner mehr kennt, der jünger ist als 50. Sie kennen den Besitzer noch mit Namen, wissen, an welcher Stelle das Bonbonglas stand und welches Klingeln die Kasse hatte.
Die anderen, die bereit waren dazu, erzählten ihre Geschichte aus der Sicht der Brüche, nicht aus der der Kontinuitäten. Während des Krieges waren sie junge Frauen oder Jugendliche, und das was sie damals erlebt haben, hat sich viel tiefer festgesetzt, als die Zeit danach, als das Leben wieder in einigermaßen geregelte Bahnen kam.
Als der Krieg anfing, waren alle geschockt. Immer wieder wird betont, daß es kein Hurrageschrei gab, als die Nachricht vom Kriegsbeginn im Radio verkündet wurde. Der Erste Weltkrieg war noch zu nah. Die Väter oder die Männer der in diesem Buch Versammelten wurden eingezogen.
Lange Zeit schien es so, als ob die Engländer und Amerikaner die Berliner Arbeiterviertel verschonen wollten, bis am 22. und 23. November 1943 die ersten großen Angriffe auf den Prenzlauer Berg erfolgten. Vom 22.-26.11.43 wurden allein im Stadtbezirk Prenzlauer Berg 316 Gebäude völlig zerstört, 42 schwer, 194 mittelschwer und 794 Gebäude leicht beschädigt. Außerdem entstanden an 1063 Gebäuden Schäden an Fenstern, Dächern und Schornsteinen. Es wurden 268 Menschen getötet und 1091 verwundet. Obdachlos waren nach dem Angriff 18 251 Personen. Auch spätere Angriffe, am 30. Januar 1944, zwei Angriffe im Mai 44, am 3. Februar, 18. und 23. März 1945 brachten noch einmal erhebliche Verluste. Zwar gab es den Befehl für Mütter und Kinder, die Stadt zu verlassen, aber es gab auch genügend gute Gründe hierzubleiben, weil sie den Vater nicht allein lassen wollten wie Hilde, weil sie es woanders nicht aushielten, wie Christa oder weil sie dienstverpflichtet waren in Berlin, wie Inge.
Die Zivilbevölkerung war nur unzureichend mit Schutzräumen versorgt. Die Bewohner westlich der Schönhauser Allee liefen oftmals bis zum Weddinger Bunker am Humboldthain, Bewohner des Bötzowviertels gingen in den großen Flakbunker im Friedrichshain. Wenn sie voll waren, wurden die Türen geschlossen, und die Überzähligen standen unter freiem Himmel, weswegen viele schon bei Voralarm zum Bunker liefen. Weil die meisten ihre Stühle mitnahmen, wurden sie im Volksmund „Klappstuhlgeschwader“ genannt. Relativ sicher waren die ausgebauten Tiefkeller unter der Goebbelssiedlung und dem sogenannten Kreishaus der NSDAP zwischen Straße am Friedrichshain und Greifswalder Straße, die Tiefkeller der Brauereien Schultheiss, Bötzow und Pfefferberg und die Krypta der Herz-Jesu-Kirche, deren Schreckenstage im noch vorhandenen Luftschutzkeller an den Wänden aufgezeichnet sind. Ausreichenden Schutz bei Volltreffern boten diese Keller nicht. Und erst recht nicht die Hauskeller, über deren Beschaffenheit viele der hier Versammelten berichten.
Zwischen dem 1.9.1939 und dem 21.4.1945 wurde in Berlin 389 mal Fliegeralarm gegeben, 143 sogenannte Kurzalarme, 135 mal öffentliche Luftwarnung. 363 Einsätze sind gegen Berlin geflogen worden, davon waren 310 Bombenangriffe, unter ihnen 40 schwere, und 29 Großangriffe. 29 379 Flugzeuge entluden ihre Bombenlast auf Berlin, die ein Gewicht von 45 517 Tonnen hatten. Bei rund 70 Luftangriffen fielen Bomben auch in Prenzlauer Berg.
Am 25. September 1944 befahl Hitler die Einberufung von Männern von 16-60 Jahren zum Volkssturm, die Rote Armee stand im Baltikum und vor Warschau, Einheiten der US-Armee überschritten bei Trier die deutsche Grenze. Im Oktober wurde der Plan zur Befreiung Berlins durch die Rote Armee ausgearbeitet, der im November 1945 endgültige Gestalt annahm. In der strategischen Richtung auf Berlin, vom Mittellauf der Weichsel über Poznan und Berlin bis zur Elbe wurde der Hauptstoß angesetzt. In Richtung Berlin sollten die 1.Belorussische und die erste Ukrainische Front operieren.
Am 12. Januar überschritt die Rote Armee die Reichsgrenze, und am 30. Januar erreichten Panzer der ersten Bjelorussischen Front die Oder zwischen Frankfurt und Küstrin.
Berlin wurde Anfang Februar zur Festung erklärt, die Berliner Bevölkerung zum Bau von Panzersperren und zum Schanzen von Gräben in und vor der Stadt verpflichtet.
Dabei machte ein Barrikadenwitz die Runde: Der Russe braucht 2 1/4 Stunden, um die Barrikaden zu entfernen, zwei Stunden, um sich totzulachen und 1/4 Stunde, um die Barrikade wegzuräumen.
Auch in Prenzlauer Berg wurden an jedem Ausgang der Straße Hindernisse aus abenteuerlichen Materialien errichtet. So war die Barrikade in der Pappelallee aus Steinen gemauert, wie Hilde sich erinnert, die Ecke Hochmeister/ Franseckystraße mit den gefällten Platanen der Straße verbarrikadiert, von denen Walentina noch heute einen Hackklotz im Keller stehen hat.
Noch einmal gab es am 3. Februar einen der berüchtigten Tagesangriffe der US-Air-Force. 150 000 Brandbomben wurden geworfen, die Innenstadt brannte, auch der Potsdamer Platz und der Gendarmenmarkt. Der Tag wurde in den fünfziger Jahren von den Berlinern als Gedenktag gefeiert. An der Ecke Dimitroffstraße/Prenzlauer Allee stellte man ein provisorisches Denkmal auf. Es war die Zeit des kalten Krieges und verurteilt wurde der „Anglo-amerikanische Bombenterror“, eine Bezeichnung, die Goebbels prägte. Irgendwann wurde der Stein stillschweigend weggeräumt, und Gerda fragt sich noch heute, warum der Tag nicht die Bedeutung erhielt wie der 13. Februar in Dresden.
Am 9. März gab das Oberkommando der Wehrmacht den „Grundsätzlichen Befehl für die Vorbereitung zur Verteidigung der Reichshauptstadt“. Ausgearbeitet wurde ein Verteidigungssystems mit drei Sperringen, dessen erster Ring 40 km vor Berlin, dessen zweiter Ring mit dem Stadtrand und dessen dritter, innerer Verteidigungsring, mit dem S-Bahn-Ring identisch war.
Die Ringe waren durchkreuzt von 8 Sektoren, A-H. Sektor H umfaßte neben Prenzlauer Berg Bernau, Pankow, Heinersdorf und Weissensee. Sitz der Hauptkampfleitung dieses Sektors war die Schultheissbrauerei Schönhauser Allee. Der Divisionsstand wurde im Keller der Schultheiss-Brauerei eingerichtet. Vorher hatten, so erinnert sich Walentina, dort ukrainische Zwangsarbeiterinnen für AEG gearbeitet, die im Souterrain des ehemaligen jüdischen Altersheimes in der Schönhauser Allee 22 hausen mußten.
Der Kampf um Berlin sollte mit Fanatismus geführt werden und „jeder Häuserblock, jedes Haus, jedes Stockwerk, jede Hecke, jeder Granattrichter bis zum äußersten“ verteidigt werden. Das hieß, die ohnehin durch die Bombenangriffe nicht wiederzuerkennende Stadt vollständig zu zerstören, auch um den Preis noch größerer Opfer unter der Zivilbevölkerung. Zwei Drittel der Bevölkerungszahl der Vorkriegszeit befand sich noch in Berlin, in Prenzlauer Berg 209 000 Menschen, heute sind es nur noch 145.000, dazu kamen Flüchtlinge und Zwangsarbeiter, zum anderen standen aber nur zahlenmäßig geringe und mangelhaft ausgebildete Kräfte zur Verteidigung zur Verfügung. Das OKW forderte zum „Volkskrieg im Rücken des Feindes“ auf. Aber die Berliner waren kriegsmüde. Am 11. März gab es zwei weitere schweren Angriffe auf den Prenzlauer Berg, nachmittags und abends. Getroffen wurde dabei das Haus Immanuelkirchstraße 13, an das sich sowohl Gerda als auch Margarethe erinnern, weil wochenlang nach den Toten unter den Trümmern gesucht wurde und einige nie gefunden wurden. Das Grundstück ist bis heute nicht bebaut.
Einen Tag später befahl Hitler: „Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebiete, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“ Der Befehl ging an alle Truppenteile der Wehrmacht und galt auch für Berlin.
Am 16. April beginn die Berliner Operation der Roten Armee. In Berlin gibt es keinen Strom mehr, nur über Drahtfunk und Detektor lassen sich Informationen empfangen.
Am 17. April ist Seelow erobert, am 18. April die Seelower Höhen eingenommen. Damit ist der Abwehrriegel durchbrochen. 250 000 deutsche Soldaten sind in Berlin im Einsatz, die wenigsten davon aus regulären Truppen. Sie werden mit Doppelstockbussen an die Front gefahren.
Am 19. April zieht sich die Wehrmacht auf die äußere Sperrzone der Berliner Verteidigung zurück. In der Nacht vom 18./19. April gibt es den letzten britischen Angriff auf Berlin.
Mit einem Leuchtkugelabwurf bekommen die Bodentruppen der Roten Armee das Zeichen zum Kampfbeginn. Im Völkischer Beobachter von Freitag, dem 20. April 1945 wird auf Seite 2 mitgeteilt, daß am dem 21. April 1945, in der Zeit von 9-16 Uhr ein Übungsschießen einer Flakbatterie im Norden Berlins stattfindet. Das ist eine der letzten Propagandalügen, die viele Opfer kostet. Denn es wird scharf geschossen, und auf den Straßen des Prenzlauer Berg liegen an diesem regnerischen Sonnabend die ersten Toten. Die 3. und 5. Stoßarmee, die 2. Gardepanzerarmee und 47. Armee der 1. Belorussischen Front dringen in die nördlichen und östlichen Stadtbezirke, in Heinersdorf und Weissensee ein. Der Völkische Beobachter kündigt unter der Rubrik Unterhaltung für den Abend ein Kammerkonzert des Berliner Philharmonischen Orchesters im Beethovensaal an. Am 22. April erreicht die Rote Armee die nördliche Grenze des Prenzlauer Berg.
Von diesem Zeitpunkt an haben die Bewohner des Prenzlauer Berg unterschiedliche Erlebnisse, je nachdem, ob ihre Straße in der Hauptkampflinie lag, wie bei Gerda, für die eine Odyssee durch die Stadt begann oder es so ruhig blieb wie bei Walentina, wo die Kellerbewohner nicht wußten, wo die Front steht, weil weder Panzen noch Soldaten zu sehen waren.
Für die Bewohner nördlich der S-Bahn ist der Krieg spätestens am 28. April vorbei. Es gibt eine Ausgangssperre von 22 – 8 Uhr. Hundert Meter weiter südlich geht er vier Tage länger.
Die Rote Armee hat es schwer in diesem unübersichlichen Gebiet mit engen Straßen undurchschaubaren Häusern, vielen Höfen. Der Kampf um den Prenzlauer Berg fordert sinnlose Opfer unter der Zivilbevölkerung und unter den Soldaten beider Armeen. Auch Zwangsarbeiter, 9000 hielten sich zeitweise in Prenzlauer Berg auf, kommen bei den Kämpfen um. Die wenigsten Opfer werden auf den Friedhöfen bestattet und wenn, dann nur in Massengräbern. Der weitaus größte Teil wird vorerst von Verwandten oder Nachbarn auf Höfen und Plätzen begraben. Als Särge dienen zusamengenagelte Dielenbretter oder Kleiderschränke. Im Sommer 1945 werden sie vom neu eingerichtete Bestattungsamt exhumiert und auf Friedhöfe überführt. Die genaue Anzahl der Opfer ist nicht bekannt. Auf den Friedhöfen von St. Nicolai und St.Marien liegen laut Liste insgesamt 187 Tote in Massengräbern, davon 47 Frauen und 7 Kinder. Angehörige der Wehrmacht waren nur 51. Als die Toten Anfang der siebziger Jahre als Gefallene im Sinne des Kriegsopferfürsorgegesetzes neu definiert wurden, zählten nur die Wehrmachtsangehörigen.
Nach den Kämpfen in der Prenzlauer Allee in Höhe der Immanuelkirche, wo vor allem der Volkssturm kämpfte und Kriegsmüde an den Barrikaden aufgeknüpft wurden, wie an so vielen Stellen im Prenzlauer Berg, mußte ein damals 17-jähriger, dessen Eltern ein Fuhrgeschäft besaßen, die Toten, die nur notdürftig auf dem Immanuelkirchhof verscharrt worden waren, zum Friedhof Prenzlauer Allee 1 fahren und dort begraben.
Die meiste Zeit dieser zwölf Tage verbringen die Menschen in den Kellern ihrer Häuser, ohne Licht; Luft und Wasser. Um das zu holen, müssen sie mitten im Beschuß, oft kilometerweit zu einer der noch funktionierenden Pumpen gehen und stundenlang anstehen. Ebenso ist es mit Lebensmitteln. Viele Frauen sind von diesen Beschaffungen nicht mehr zurückgekehrt und wurden auch nicht mehr gefunden.
Wo die Kämpfe abgeflaut sind, beginnen die Plünderungen. Vor allem im Tiefenreservoir des Wasserturms, später in der Schultheiss-Brauerei und im Bunker und in den Wohnungen der Goebbels-Siedlung, – deren Bewohner nach der Kapitulation das Weite suchten, mit gutem Grund, hatten dort doch fast ausschließlich Beamte des Kreishauses der NSDAP gewohnt – wird alles mitgenommen, was zu transportieren ist.
An der Kniprodestraße im Bötzowviertel, wo sich schließlich der Kampf konzentriert, brennt die SS eine Reihe von Häusern nieder, um freies Schußfeld für die auf den Hochbunkern im Friedrichshain postierten Geschütze zu erhalten. Die oft erst 17-jährigen Flakhelfer und Flakhelferinnen auf den Türmen schießen aus Mangel an Meßtischblättern mit dem Stadtplan von Berlin. Allein in dem Karree Bardeleben/Virchow/Werneuchener Straße werden 48 Häuser mit ca. 1500 Wohnunger zerstört. Nach dem Krieg wohnte niemand mehr dort, so daß man sich entschloß, die Straßenbahnlinie durch die Kniprodestraße nicht mehr zu reparieren. In den fünfziger Jahren wurden im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks auf der Seite zum Bötzowviertel neue Häuser errichtet. Die Seite zum Friedrichshain blieb unbebaut. Heute ist dort eine Wiese.
Bei den Kämpfen um den Sportplatz Friedrichshain fielen allein 160 deutsche Soldaten.
Zweihundert Meter weiter, im Kreishaus fand zur gleich ein Fest auf der Titanic statt. Es wurde gesoffen und gefressen, was die Vorräte hergaben.
Der spätere Publizist Dieter Borkowski hat seine Erlebnisse im Flakbunker Friedrichshain in einem Tagebuch aufgeschrieben, wo er unter dem Datum des 28. April schreibt:
„Erst einmal hörte ich von Fred und Karl-Heinz, daß auf höchsten Befehl die russischen Kriegsgefangegen erschossen wurden, die als Hilfskanoniere in der Batterie Dienst taten. Sie hörten schon von der Kniprodestraße die Urräh-Rufe der stürmenden Rotarmisten…In den fünf Stockwerken liegen überall Tote und Verwundete, ein widerwärtiger süßlicher Geruch durchzieht den Turm. Wir erhielten den Befehl, die neue Hauptkampflinie in der Höchste-Straße zu beziehen. Die zwei Flaktürme stehen jetzt wie Inseln im Meer, denn die Russen sind an diesen Festungen längst vorbeigestoßen…Die Versorgung mit Verpflegung und Munition ist sehr schlecht geworden, wir liegen in den Hausfluren von alten Mietskasernen, in denen die Arbeiterfrauen uns lieber gehen sehen würden?“
In den schon von der Roten Armee befreiten Gebieten richtet die Rote Armee Bezirkskommandanturen ein, die vorerst auf die Bezirkseinteilung keine Rücksicht nehmen. Später werden sie analog der Polizeireviere mit russischen Kommandanten und deutschen Bezirksvorstehern versehen, die die Befehle an die Straßen- und Hausobleute übergeben.
Am 29. April kommt die 3. Stoßarmee der 1. Belorussischen Front von Norden über die Schönhauser Allee durch und kämpft gegen versprengte SS-Trupps in der Pappelallee und in der Schönhauser Allee. Die Ulbricht-Gruppe kommt aus Moskau.
Am 30. April befiehlt Hitler, die Truppen an der Schönhauser Allee zusammenzuziehen und nach Nauen auszubrechen. 20 Uhr wird dieser Befehl wieder zurückgezogen, Hitler ist inzwischen schon tot, neuer Befehl war, die Stellung zu halten.
Die rote Fahne weht vom Reichstag und ist von den Dächern des Prenzlauer Berg zu sehen. Von Süden kommen am 1. Mai sowjetische Truppen, die die Innenstadt bereits befreit haben. In der Schwedter Straße wird gekämpft. Die deutschen Truppen in der Schönhauser Allee sitzen in der Falle, aber niemand gibt den Befehl zur Kapitulation.
Am 2. Mai, 0.40 Uhr bittet General Weitlings, Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Berlin, in einem Funkspruch um Einleitung von Kapitulationsverhandlungen.
Am 2. Mai, 3.30 Uhr beginnt der Ausbruchsversuch aus der Schultheissbrauerei durch die Schönhauser Allee nach Norden. Es gibt einen mehrstündigen Kampf in Höhe Wichert/Schivelbeiner Straße, in den auch Zivilisten verwickelt sind.
Um 8.00 Uhr gibt der Befehlshabers des Verteidigungsbereiches Berlin General Weitling den Befehl zur Kapitulation.
14.30 kommt es an der Buchholzer Straße/Ecke Schönhauser Allee zur Kapitulation. Um 15.00 stellt die Mehrzahl der Wehrmachtsverbände in Berlin den Widerstand ein.
An diesem Tag werden 134 000 deutsche Soldaten und Offiziere von den Einheiten der 1.Belorussischen Front und der 1.Ukrainischen Front gefangengenommen. Viele hatten noch versucht, sich Zivilsachen zu beschaffen. Auch Inge aus der Bötzowstraße versteckte einen Soldaten im Keller. Laut Jacob Kronika fahnden die Russen im Laufe des Mai, „nach 50 000 Soldaten, die sich durch Tarnung als Zivilisten vor der Kapitulation der Kriegsgefangenschaft entzogen haben.“
Heimweg 1945, beschreibt die Lyrikerin Inge Müller, die als Wehrmachtshelferin an den Kämpfen im Prenzlauer Berg teilnahm, zwanzig Jahre später in einem Gedicht ihren Weg über die Schönhauser Allee nach Friedrichsfelde:
Übriggeblieben zufällig
Geh ich den bekannten Weg
Vom Ende der Stadt zum anderen Ende
Ledig der verhaßten Uniform
Versteckt in gestohlenen Kleidern
Aufrecht wenn die Angst groß ist
Kriechend über Tote ohne Gesicht
Die gefallne Stadt sieht mich an
Ich seh weg.
Viele, die wie Walentina, Hilde, Inge oder Christa aus dem Keller wieder ans Tageslicht treten, erkennen ihre Straße nicht mehr wieder. Die Kinder haben das in ihren Aufsätzen 1946 beschrieben:
„Die Straßen boten uns ein grausiges Bild. Halb ausgeschlachtete Pferde, Leichen des Volkssturmes, der Wehrmacht, zerschossene Geschütze, Berge von Munition. Und dann, was war inzwischen an Häusern abgebrannt“. Hilde erinnert sich noch genau an den Sechzehnjährigen, der im Kino Colosseum aufgebahrt wurde, und noch heute, wenn sie in das frischrenovierte Multiplexkino geht, kommen ihr am Eingang die Tränen, und niemand der Umstehenden weiß warum.
Letzter umkämpfter Ort in Prenzlauer Berg ist die Schultheiss-Brauerei, wo sich Ortsgruppenführer und SS-Kampfleitungen verschanzt hatten. Die Brauerei ist Lazarett, Erschießungsplatz, Lebensmittellager und Wasserstelle. Ab 2. Mai ist sie eine Falle. Die Daten der Chronisten gehen auseinander, was die Kapitulation der Brauerei betrifft. Manche sprechen von 2./3.Mai, andere von 4./5. Mai, ganz sicher aber erst nach der Berliner Kapitulation. Die Russen stellen ein Ultimatum, Sprengladungen werden gelegt und drei deutsche Kommunisten als Parlamentäre in die Brauerei geschickt, wo nach zähen Verhandlungen die Kapitulation angenommen wird.
Die Liquidierung einzelner versprengter deutscher Truppen nimmt noch eine geraume Zeit in Anspruch, auch der Werwolf treibt sich noch ein paar Monate in den Ruinen herum. Trotzdem – es ist Frieden.
Erster Kommandant von Prenzlauer Berg wird Generalmajor K.M. Nikitin. Innerhalb der nächsten drei Jahre wird der Kommandant von Prenzlauer Berg noch viermal wechseln.
Der Ortschronist Wilhelm Ratthey beschreibt das Verhältnis zu den Russen bei Kriegsende 1948 folgendermaßen und seine Aussage deckt sich mit anderen Quellen:
„Ein Teil begrüßte die die Russen als Befreier, ein Teil zog sich tief in den Schmerz über den Untergang deutscher Geltung zurück, der größte Teil war so apathisch geworden, daß er scheinbar ganz unbeteiligt war. …Es darf aber nicht vergessen werden, daß viele der russischen Soldaten die Berliner, die sie begeistert begrüßt hattem, arg enttäuschten.“
Gemeint sind die Plünderungen und Vergewaltigungen, vor allem der nachstoßenden Truppen. Die in Berlin ankommenden Flüchtlingsfrauen hatten den Berlinerinnen von Übergriffen durch die Truppen der Roten Armee erzählt. Das sprach sich herum in den Kellern. So schlimm wie im Osten wurde es in Berlin nicht, aber es betraf trotzdem 100 000 Frauen in Berlin. Es war von Kiez zu Kiez anders, Frauen, die das Kriegsende in den Außenbezirken erlebten wie Anna waren weitaus stärker betroffen als die in den Innenbezirken, die ziemlich spät befreit wurden, als Vergewaltigungen schon hart bestraft wurden. Auch entwickelten sie Strategien, um verschont zu bleiben, wie Hilde, die, als ein Rotarmist in ihre Wohnung kam, aufs Fensterbrett sprang und „Kommandant!“ rief. Öffentlich wurde über dieses Thema bis zum Ende der DDR geschwiegen. Schon im Mai 1945 hatten Berliner Genossen Walter Ulbricht gebeten, diese Vorgänge in der KPD zu diskutieren. Ulbricht hat ihnen das Wort abgeschnitten mit der Bemerkung, geschlechtskranke Frauen sollten behandelt werden, alles andere würde später diskutiert. Zu dieser Diskussion kam es in der DDR nie.
Am 2. Mai wird die Verwaltungsarbeit in Prenzlauer Berg wiederaufgenommen. 662 Angestellte des Bezirksamtes werden als Mitglieder der NSDAP aus der Verwaltung entfernt. 446 dürfen bleiben. In den folgenden Jahren werden von allen vier Alliierten eingesetzte Entnazifizierungsausschüsse prüfen, wer als Täter und wer zu den Mitläufern zu zählen ist.
Die Gebäude des Bezirksamtes werden von der sowjetischen Kommandantur beschlagnahmt. Ein Haus nutzt der sowjetischen Geheimdienstes GPU als Gefängnis, von dem aus Verhaftete in das Speziallager Sachsenhausen oder in den Osten der Sowjetunion gebracht werden. Nicht alle waren Nazis. Oft reichte eine Denunziation aus der Nachbarschaft, um inhaftiert zu werden. Nach der Vereinigung des KPD und der SPD zur SED werden zunehmend auch SPD-Mitglieder verhaftet, die der Vereinigung ablehnend gegenüberstehen.
In Prenzlauer Berg gibt es 689 total zerstörte Gebäude, das ist verglichen mit Mitte, wo 3575 Häuser Ruinen sind, nicht viel. Die Frauen und die wenigen verbliebenen Männer fangen an zu enttrümmern. Zuerst sind es vorwiegend ehemalige Nazis, die zu Zwangsarbeit verpflichtet sind, später arbeiten Freiwillige auf dem Bau, um Lebensmittelkarte I oder II zu bekommen. Schippen und Eimer müssen selbst mitgebracht werden. Zuerst werden die Gehwege und Straßen von Trümmern befreit. Später fährt eine Trümmerbahn quer durch den Bezirk bis zum Volkspark Friedrichshain. Auf den unvollständig gesprengten Bunkern werden die Trümmer der Häuser des Viertels, die vorher von den Frauen eingerissen, auf Loren verladen und mit der Trümmerbahn durch die Straßen transportiert wurden, Schicht um Schicht auf den Bunker aufgetragen. Darüber kam Erde, darauf wurden Bäume gepflanzt. Wenn man beim heutzutage beim Spazierengehen nicht auf den Weg achtet, stolpert man über Ziegel, die das Erdreich nach und nach wieder freigibt.
Am 20. Mai wurde in Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone die Moskauer Zeit eingeführt. Der sowjetische Stadtkommandant Nikolaj E. Bersarin ordnete an, bis zu besonderen Anweisungen in der Stadt Berlin nach Moskauer Zeit zu arbeiten, ein Befehl der relativ sinnlos war, weil es im Sommer abends noch nach der Sperrzeit hell war, Inhaber von Geschäften aber mitten in der Nacht aufstehen mußten, um den Laden rechtzeitig öffnen zu können.
Am 28. Mai 1945 wird der Schulunterricht, so gut es geht und ohne alles, wieder aufgenommen.
Ab Mitte Juni 45 gibt es Strom, im August Wasser und ab Januar 1946 wieder Gas. Irgendwie, und angesichts der heutigen Dauer von Arbeiten am System der öffentlichen Verkehrsmittel in atemberaubender Schnelligkeit, kommt das öffentliche Leben wieder in Gang. Parteien werden gegründet, Ausschüsse und Vereine ins Leben gerufen, Kino und Theater öffnen. Während die Älteren vorwiegend mit der Beschaffung von Lebensmitteln beschäftigt sind, beginnen die Jüngeren, wie Erhard, Christa und Wera, das nachzuholen, was sie durch den Krieg versäumt haben. „Ohne Strümpfe, aber mit glühenden Herzen“, wie Christa es formuliert, sind sie bei vielen öffentlichen Veranstaltungen dabei, besuchen Kurse der Volkshochschule, gehen zu Veranstaltungen des Kulturbundes oder arbeiten bei den Jugendausschüssen mit. Ihr Erlebnis des Krieges und sein als Befreiung empfundenes Ende wird die Wurzel sein für ihren eng an die DDR gebundenen Antifaschismus. Sie werden später zu denen gehören, die den Zusammenbruch der DDR als eine persönliche Niederlage empfinden werden.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit ist es noch egal, in welchem Sektor der Stadt man sich befindet. Überall liegen Trümmer, überall gibt es nicht genug zu essen. Das ändert sich erst mit den zunehmenden Unstimmigkeiten unter den Alliierten und dem Beginn dessen, was in der Geschichtsschreibung als Kalter Krieg bezeichnet wird.
In das Gemeindehaus der Eliaskirche in der Göhrener Straße zog in den ersten Tagen nach Kriegsende die Redaktion der Täglichen Rundschau. Irgendeiner der sowjetischen Offiziere muß sich,auf der Suche nach einem Gebäude, in diese stille Straße verirrt haben. Das Blatt war die erste Berliner Zeitung, die nach der Kapitulation zuerst als Frontzeitung der Roten Armee und später als Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung erschien. Die Berliner waren hungrig nach Informationen, aber das Papier reichte nie, so daß die Zeitung an Bretterzäune und Häuserwände geklebt wurde. Bald erhielten auch andere Tageszeitungen Lizenzen, aber die Tägliche Rundschau blieb bis zu ihrer Einstellung 1955 in sowjetischer Regie und war somit auch Sprachrohr der Sowjetischen Militäradministration. Die Redakteure, sowjetische Kulturoffiziere, waren zum großen Teil studierte Germanisten, deren Liebe zur deutschen Literatur stärker war als der Haß auf das deutsche Volk. Die jungen Deutschen, die sie ziemlich schnell zu verschiedensten Arbeiten in der Redaktion heranzogen, sind sich, zumindest was die Anfangszeit betrifft, einig darüber, daß es für sie eine ungeheure intellektuelle Bereicherung war, dort zu arbeiten. Den Stalinismus bekamen zuerst die Kulturoffiziere zu spüren, von denen die meisten zwischen 1948 und 49, oft in Nacht- und Nebelaktionen, nach Moskau zurückbeordert wurden. Eine ehemalige deutsche Mitarbeiterin hat sich 1994 anläßlich einer Veranstaltung über die Arbeit der Täglichen Rundschau daran erinnert: „Ich weiß, und das habe ich alles erst viel später mitgekriegt, daß manche dieser Kulturoffiziere schwer gelitten haben. Zwei sind in Stalinschen Lagern umgekommen. Beides hochintelligente Juden. Ein anderer ist später an den Folgen der Inhaftierung gestorben. Und das hat mich eigentlich immer wieder beschäftigt und läßt mich meine Fäuste manchmal ballen bis zu Tränen. Sie haben soviel Menschlichkeit bewiesen, aber alles unter dem Stalin-Regime. Und ich bin überzeugt, daß viele, ich sage nicht alle, das bestmögliche daraus gemacht haben. Ich war das jüngste Küken in der Redaktion, und sie haben sich so meiner angenommen, das erste Buch was sie mir in die Hand gedrückt haben, das war Heinrich Heines „Wintermärchen“. Was wußte ich von Heirich Heine? So war das Stück für Stück, daß ich kulturell an viele Dinge rangeführt wurde. Sie hatten sich das Ziel gesetzt, aus mir etwas zu machen. Wir waren voller Elan, und gleichzeitig war bei mir so ein tiefer Schuldkomplex als ich nun nach und nach erfuhr, was die Deutschen in der damaligen Sowjetunion angerichtet hatten. Ich wollte auch ein Stückchen wieder gut machen. Aber keiner der Offiziere hier in der Redaktion ist auf normaler Basis nach Hause gefahren. Wir haben nie erfahren, warum einer am nächsten Tag nicht kam. Die haben nicht mal packen können. Von einem Oberstleutnant haben im Friedrichhain wochenlang die Kisten auf dem Hof gestanden. Es regnete, und die Kisten verschimmelten, und eines Tages sind sie abgeholt worden. Wir haben niemals erfahren, wessen sie genau beschuldigt worden sind. Ich denke, es war teilweise wegen zu enger Freundschaften mit Deutschen. Nach 45 war es überhaupt kein Problem, daß Deutsche und die Russen sich privat getroffen haben nach Dienstschluß. Dieser Befehl Stalins, daß private Kontakte zwischen Deutschen und Russen verboten sind, ist wohl 46 erlassen worden.“
Aufgrund dieses Verbotes wird 1947, die Tägliche Rundschau ist inzwischen in die Straße am Friedrichshain gezogen, das ganze Göhrener Ei von der Roten Armee requiriert und für die Zivilbevölkerung gesperrt. Den Bewohnern werden andere Wohnungen zugewiesen. In den Wohnungen werden die zuvor im Bezirk verteilt bei Deutschen einquartierten sowjetischen Offiziere konzentriert, auch, um sie besser kontrollieren zu können.
Mit der Vereinigung von KPD und SPD zur SED zu Beginn des Jahres 1946 begann vor allem im Bezirk Prenzlauer Berg eine politische Auseinandersetzung mit denjenigen SPD-Mitglieder, die sich einer Vereinigung widersetzten. Unmittelbar nach der SED-Gründung zog der Parteivorstand in das ehemalige Kreditwarenhaus Jonas am Fuß des Prenzlauer Berg. Ihm konnte an einer starken SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung nicht gelegen sein. Die Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung am 20. Oktober 1946 endeten aber mit einer Niederlage für die SED. In Prenzlauer Berg bekam die SPD 21 Mandate, die SED dagegen nur 14.
Als erste Frau auf diesem Posten wird Ella Kay Bezirksbürgermeisterin. Eine Jahr später, im Dezember enthebt sie die sowjetische Kommandantur unter fadenscheinigem Vorwand ihres Postens. Ihre Absetzung erfährt sie aus der „Täglichen Rundschau“. Auch die angerufene Alliierte Kommission kann das Problem nicht klären. Am 21. Januar 1948 wird Kurt Exner (SPD) neuer Bezirksbürgermeister, der elf Monate später, nach zunehmenden Eingriffen der sowjetischen Kommandantur in die kommunale Arbeit, wieder zurücktritt. Ohne Neuwahl wird am 20. September 1948 ein SED-Bürgermeister eingesetzt. Bis zum Ende der DDR wird sich an dieser Konstellation nichts ändern. Anfang 1952 werden Kreisbüros in Ostberlin aufgelöst.
Die Gründung der DDR hat für die wenigsten der befragten Berliner eine unmittelbar persönliche Rolle gespielt. Viel stärker griff die Währungsreform in die unmittelbaren Lebensumstände ein, denn sie spaltete die Stadt zum ersten Mal. Mit der Verkündung der separaten Währungsreform in den westlichen Zonen am 18. Juni 1948 gab es in der Lösung der Berlin-Frage nur zwei Möglichkeiten. Entweder die wirtschaftliche Einbeziehung Gesamtberlins in die sowjetische Besatzungszone oder eine Westintegration der von den westlichen Allierten besetzten Bezirke Berlins. Die alliierte Zusammenarbeit war mit dem Auszug der sowjetischen Delegation aus der Alliierten Kommandantur am 16. Juni beendet. Am 23. Juni befiehlt der von der SMAD eingesetzte Marschall Sokolowskis eine Währungsreform in der sowjetischen Besatzungszone und in Groß-Berlin. Der RIAS meldet um 13.15 Uhr, daß der Befehl für die Westsektoren null und nichtig ist. Als Notmaßnahme werden alle Banken und Geschäfte, außer lebensnotwendigen, geschlossen. Am 24. Juni beginnt in der SBZ und im sowjetischen Sektor von Berlin die Ausgabe alter Reichsbanknoten mit aufgeklebtem Spezialkupon. Einen Tag später werden in den Westsektoren neue, mit einem B gekennzeichnete Geldscheine ausgegeben. Die sowjetische Militärregierung verfügt die Einstellung der Lebensmittel- und Energielieferungen aus der SBZ nach Westberlin. Ab 26. Juni 1948, bis zur Aufhebung im Mai 1949 wird Westberlin von den Amerikanern über eine Luftbrücke versorgt. Mit Einführung der von der Bank deutscher Länder ausgegebenen „Deutschen Mark“ am 20. März werden die Westsektoren Berlins endgültig in den westlichen Währungsverbund und im August 1949 in die Marshall-Plan-Hilfe einbezogen. Der Lebensstandard in den Westsektoren, der sich vorher kaum von dem im Osten unterschied, steigt. Westberlin wird zum „Schaufenster der Freiheit“. Zum einen beginnt damit die Abwanderung von Fachkräften aus Ostberlin, zum anderen beginnt das, was Gerda in ihrer Erzählung kurz und bündig „umrubeln“ nennt: Ostberliner tauschen in den kleinen Wechselstuben an der Sektorengrenze Ost- gegen Westgeld zum Umtauschkurs von 5:1, bisweilen auch höher, und kaufen in den Westsektoren das, was es im Osten nicht oder nur auf Zuteilung gibt. Da Prenzlauer Berg unmittelbar an der Sektorengrenze liegt, beginnt ein reger kleiner Grenzverkehr, der von den Behörden nur schwer zu kontrollieren ist.
Am 17. Juni 1953 stehen nach den Streiks der Bauarbeiter der Stalinallee und zahlreicher Betriebe, auch in Prenzlauer Berg, gegen die Normerhöhung der DDR-Regierung wieder sowjetische Panzer im Prenzlauer Berg. Walentina beschreibt diese Situation als eine in ihr Leben eingreifende. Ihr Mann hält sie davon ab, noch am gleichen Tag die Sachen zu packen. Er ist der Meinung, nun würde alles besser werden. Im Jahr 1958 erreicht die Abwanderung aus Prenzlauer Berg Richtung Westen ihren Höhepunkt. Von den 224 427 Einwohnern des Prenzlauer Berg verlassen im Laufe des Jahres 0,24 % den „demokratischen Sektor“. Das ist die höchste Zahl von Republikflüchtigen unter allen Ostberliner Bezirken. Mit dem für viele überraschenden Mauerbau am 13. August 1961 wird die Stadt geteilt. Walentinas Tochter kehrt nicht nach Ostberlin zurück, und Gerdas Sohn wird später einen Fluchtversuch unternehmen, der nur durch Zufall nicht entdeckt wird. Die wenigsten können sich mit der Teilung der Stadt abfinden. Hilde hat ihre Haltung im Nachhinein kurz und bündig zusammengefaßt: „Ick fand das immer schlimm, daß se Berlin jeteilt haben. Wie kann man eene Stadt vierteiln? Jeder hat ’n Stück Berlin jekriegt. Und das fand ick nich jut, daß se das jemacht haben. Dann wär nämlich das janze Palaver nich, wat wir jetzt haben. Entweder wir wärn alle Westen jewesen, aber nich, daß da nun jeder wat zu sagen hatte und jeder wat jesagt hat. Ick weeß nicht, das fand ick irgendwie doof.“
Von den in diesem Buch versammelten Frauen und Männern leben heute nur noch Margarethe, Hilde und Walentina in Prenzlauer Berg. Wera und Anna arbeiteten ohnehin nur hier oder gingen in Prenzlauer Berg in die Schule. Erhard zog in den fünfziger Jahren fort, Christa und Inge, nachdem sie geheiratet hatten, Ilse mußte nach einer Denunziation die DDR verlassen. Willi und Trude zogen 1995 schweren Herzens aus ihrer Wohnung in der Christburger Straße, als das Haus, das Trudes Bruder nach der Wende wiederbekommen hat, renoviert wurde. Sie leben jetzt in einer grünen Neubausiedlung am Rande der Stadt und vermissen seitdem das Leben vor ihren Fenstern und die Läden in der Straße. Gerda hat es geschafft, aus ihrer dunklen und kalten Wohnung am Bahnhof Greifswalder Straße zu kommen und wohnt jetzt im früher zu Westberlin gehörenden Nachbarbezirk Wedding, aber manchmal sehe ich sie noch durch ihre vertrauten Straßen spazieren.
Jeden Morgen gießt Emma in der Prenzlauer Wasser aus einem kleinen Eimer auf ihre Blumen. Dann füllt sie ihn wieder und läßt ihn auf dem Kohleherd stehen. Falls das Wasser wegbleibt, kann sie sich wenigstens einen Kaffee machen. Das Wasser bleibt schon lange nicht mehr weg, aber man kann ja nie wissen. Ein Straße weiter ruft sich Margarethe, wenn sie nachts nicht schlafen kann, alle Mieter ins Gedächtnis zurück, die seit ihrer Kindheit in ihrem Haus gewohnt haben. Und sie ärgert sich, wenn sie sich nicht erinnern kann, wie der Mieter hieß, der in den sechziger Jahren soviel getrunken hat.